Angenommen, Sie wären Diktator…

Widersprüche. Man kauft das Gemüse auf dem hiesigen Wochenmarkt, aber gerne Wein und Superfood aus Übersee. Man setzt sich für faire Arbeitsbedingungen weltweit und gegen die globalen Multis ein, hat aber ein Smartphone mit seltenen Erden und diese schicken Sneakers von Amazon, die man um jeden Preis haben musste. Man spielt in der Alternativen Fussballliga und schaut am Abend darauf Champions League oder WM, obwohl sie der globalen Fussballindustrie jedes Jahr Millionen einbringen. Man trennt feinsäuberlich den Abfall, fährt Mobility, fliegt aber ständig mit Billig-Airlines ins verlängerte Wochenende.
Das ist sicher polemisch formuliert und trifft lange nicht auf alle zu, im Kern steckt dennoch viel Wahres. Nehmen wir den Tourismus, über den am Dienstagabend im Palace unter dem Motto «der unsichtbare Tropenhelm» diskutiert wurde: 1,2 Milliarden Auslandsreisen weltweit wurden 2017 gezählt, erklärte Moderator Marco Dal Molin zu Beginn. Die Schweiz gehört zu den Weltmeisterinnen, etwa 9000 Kilometer fliegen «wir» jedes Jahr. Über 40’000 Personen klettern pro Jahr auf den Mount Everest, und die Ruinenstadt Machu Picchu wird jeden Tag von etwa 2500 Leuten besichtigt.
New York retour: 2,7 Tonnen CO2
Welche ökologischen Auswirkungen bringt diese Reiselust (oder Reisewut) mit sich? Und welche sozialen Auswirkungen hat das trendige Weltenbummeln in den bereisten Ländern, insbesondere im globalen Süden? Antworten dazu lieferten die Umweltwissenschaftlerin und SP-Nationalrätin Claudia Friedl, Luregn Lenggenhager, Historiker an der Universität Basel, und Christian Laesser, Professor für Tourismus- und Dienstleistungsmanagement an der Uni St.Gallen.
Nachdem die Frage nach den bei Schweizerinnen und Schweizern besonders beliebten Reisetrends geklärt war (der einzige gemeinsame Nenner sei momentan die Vielfalt der Reisearten, sagt Laesser), ging es um die ökologischen Auswirkungen. Man mache sich viel zu wenig Gedanken, wie einschneidend das Reisen in Sachen CO2-Bilanz sei, kritisierte Friedl. «Jeder von uns stösst pro Jahr rund 4,7 Tonnen Kohlenstoffdioxid aus, Flugreisen und Importprodukte noch nicht eingerechnet. Wenn man nach New York und wieder zurückfliegt, verbraucht man nochmal 2,7 Tonnen. Das ist so viel wie ein Einfamilienhaus fürs Heizen in einem Jahr braucht.»
Damit verbunden ist natürlich die Frage, was die Leute denn dazu bringt, mal kurz nach XY zu fliegen, sprich warum das Fliegen heute so billig ist. Laessers Erklärung in Kürze: Die Kosten fürs Fliegen seien real nicht gestiegen, die Einkommen hingegen schon, darum die grosse Nachfrage. Friedl gab zu bedenken, dass der Flugverkehr auch massiv subventioniert werde, da man keine CO2-Abgabe wie für das Heizöl, keine Treibstoffabgabe wie für das Benzin und auch keine Mehrwertsteuer zahle. Ausserdem würden die Ausbauten der Flughäfen und der Bau von Flugzeugen in Europa von der öffentlichen Hand mitfinanziert.
Tourismus als Teil des kapitalistischen Systems
Luregn Lenggenhager, der beruflich viel im südlichen Afrika weilt, sieht die Auswirkungen des Tourismus beispielweise in Namibia nicht als isoliertes Phänomen, sondern als «weitere Folge der globalen Ungleichheit, die man betonen muss». Der Tourismus sei lediglich ein Teil des kapitalistischen Systems, und dass etwa die Schweizerinnen und Schweizer mehr Geld als andere übrig haben am Ende des Monats, basiere auf diversen Formen der Ausnutzung.
Lonely Planet – ein Backpacker kommt selten allein: 5. Juni, 20:15 Uhr, Palace St.Gallen. Mit den Historikern Tim Rüdiger und Kaspar Surber.
In Namibia und Südafrika gebe es einen Kampf um die Ressourcen, erklärte Lenggenhager. «In Kapstadt herrscht gerade die grösste Dürre aller Zeiten, es gibt nur noch maximal 50 Liter Wasser pro Tag und Haushalt, während man für gewisse Hotels Ausnahmen macht, weil sie grossen Einfluss und eine gute Lobby haben. Der Tourismus in Südafrika ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige.» Ähnlich sei es mit dem sogenannten Wild Life: «Es geht um Land und darum, wer wilde Tiere hat, die er oder sie global vermarkten kann.» Jene, die den Safari-Jeep und die Farm besitzen, machten gutes Geld, die meisten anderen müssten mit schlecht bezahlten Jobs vorliebnehmen, wie in der Tourismusbranche üblich.
«Es gibt viele Schwellen- und Entwicklungsländer, in denen der Tourismus eine der Hauptdevisenquellen ist», wandte Friedl ein. Ein nachhaltiger Tourismus könne Ländern auch bei der Entwicklung helfen, allerdings gäbe es dabei viele Facetten zu beachten. Nach dem Tsunami in Sri Lanka etwa seien viele Fischer «wegen Tsunamigefahr» vom Strand auf die Hügel umgesiedelt worden, später habe man unten am Meer eine Hotelanlage gebaut. Solche Entwicklungen seien «extrem verwerflich», darum müsse man Mechanismen finden, um diese Probleme sichtbar zu machen, damit man «als Kunde aussuchen kann».
Die Sache mit dem Diktator…
Friedl lege ein wichtiges Dilemma offen, bemerkte Laesser. «Nehmen wir an, Sie sind ein Diktator in einem mausarmen Land», begann er. «Was ist Ihr erstes Ziel? Sie müssen die Leute beschäftigen.» Wenn der Grossteil der Bevölkerung ungebildet sei, könne man versuchen, den Tourismus zu fördern. Zwei Fragen stünden dabei im Zentrum: Wie verteilt man die Arbeit und wie verteilt man die Wertschöpfung aus dieser Arbeit?
Das Problem: «Die Arbeit ist wohl gut verteilt, aber die Wertschöpfung ist meist zentralisiert.» Das lasse sich am Anfang kaum anders lösen, erklärte Laesser, da man Strukturen und Knowhow brauche, sprich «Hilfe» von ausserhalb, von Geberländern und/oder Privatunternehmen. Problem Nummer zwei: Diese Regierungen (oder eben Diktatoren) seien oft so korrupt, dass die angestrebte Entwicklung nur zugunsten der korrupten Eliten erfolge. «Dann haben wir ein Korruptionsproblem zu lösen, nicht ein Tourismusproblem.»
Laessers Diktatoren-Bildnis sorgte für einige Lacher im Publikum. Man müsse sich auch bewusst sein, wie man denn Diktator wird, entgegnete Lenggenhager. «Es gibt ja gewisse Firmen und Länder, die durchaus Interesse haben an einer ungerechten Verteilung, an einem Diktator. Das ist kein Korruptionsproblem, sondern eines des kapitalistischen Systems, eine Ausprägung davon.»
Der Kapitalismus existiert immer noch, stellt sich also die Frage, was wir von ausserhalb beitragen könnten zu einem nachhaltigen, sozialverträglichen Tourismus. Das Fliegen müsste «eine Preisetikette bekommen, die mehr von den Kosten abdeckt, die es verursacht», sagte Friedl und verwies auf Fluglärm und Bodenverbrauch. Ausserdem müsse man die Reisebüros in die Pflicht nehmen, etwa in Sachen Ressourcenverbrauch und Arbeitsbedingungen in den Reiseländern. Allerdings müsste ein solches «Fair Travel»-Label auch das halten, was es verspricht, dafür brauche es verbindliche Sozial-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards sowie entsprechende Kontrollstrukturen bzw. -organe.
Ein Label muss man sich leisten können
Ein faires Label für die Safari in Namibia? Lenggenhager fände das «hilfreich, ein Anfang», gibt aber auch zu bedenken, dass viele Reiseanbieter im südlichen Afrika gar nicht die Mittel haben, ein solches Label zu erwerben und sich regelmässig kontrollieren zu lassen. Ausserdem könne man die Probleme mit dem Konsum alleine nicht lösen. «Mit einem Label kann man sich nicht für bessere Umverteilung auf globaler Ebene einsetzen. Und es kann sich auch ins Gegenteil verkehren, weil wir dann erst recht reisen, wenn besagtes Label auf dem Ticket klebt.»
Zum Schluss ging es um die Frage, wie der «ideale Tourismus», das Gegenstück zum Massentourismus, aussehen könnte. Friedl tut sich schwer mit einer Vision, solange noch so viel geflogen wird es wie momentan der Fall ist. Laesser setzt auf Partizipation und Teilhabe dank der Digitalisierung, auf Kleinteiligkeit sowie Interaktion zwischen Reisenden und «Bereisten» – Airbnb lässt grüssen: «Wenn Sie ein Chalet in den Bergen oder eine Hütte in Afrika haben, können Sie diese theoretisch vermarkten.»
Lenggenhager musste schmunzeln bei diesem Ansatz und erklärte, dass die Idee einer Airbnb-Hütte noch nicht wirklich angekommen sei in Namibia. Er hofft, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse global verbessern, dass Machtverhältnisse und Ungleichheit überwunden werden können und somit auch der Tourismus irgendwann «fairer, gerechter und auf Augenhöhe» ist.