, 2. Juli 2021
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Anarchie im Weinberg

Quinten steht zwischen Vergangenheit und Zukunft. Manche Aufbrüche gelingen, andere werden erschwert – auch durch Einheimische. Besuch im Mini-Tessin des Kantons St.Gallen.

Feigen gedeihen hier, Kiwis, Aprikosen, Maulbeerbäume, und an den Berghängen reihen sich die Reben dicht an dicht. Das letzte Gewitter ist erst ein paar Minuten her, die Luft noch klebrig und gefühlt rund um die Uhr zirpen die Grillen. Wenige Holzhäuser liegen verstreut am Hang, verbunden durch schmale Kieswege und Treppen mit Handläufen da und dort. Unten ruht der See, der nie gefriert.

Hanspeter «Hampi» Cadonau winkt schon von Weitem. Er steht steil im Weinberg und schlauft seine Reben ein, weiter oben krampft sein Compagnon Rafael. Diese Arbeit ist nötig, da die frischen Pinot-Blanc-Triebe nach dem neuerlichen Wachstumsschub in alle Richtungen gucken und teilweise tief in die Gassen ragen. Sind diese versperrt, wird das Spritzen und Pflegen der Reben mühsam für den Bio-Weinbauer.

Rund drei Hektar Rebbergfläche bewirtschaftet Cadonau in Quinten und Umgebung, keltern lässt er seine Weine in Berneck und Reichenau, ausgeliefert werden sie in alle Himmelsrichtungen. Auch weit über die Kantonsgrenze bekannte Salsize, Coppa und Beinschinken gibt es bei «Vinicultura Cadonau» zu kaufen.

Bringt frischen Wind und Kultur nach Quinten: Hampi Cadonau. (Bild: zvg)

Aufgewachsen ist Cadonau in Waltensburg in der Surselva. Er spricht noch fliessend Rumantsch, im Gegensatz zu den Quintner:innen, die diese Sprache schon vor Jahrhunderten vergessen haben. Lange Jahre hat der gelernte Forstwart im Tunnelbau gearbeitet und ist so um die halbe Welt gekommen. 2010 hat er den Hof in Quinten übernommen und sich schliesslich dort niedergelassen – «wegen dem Klima, dem Wein und dem Lebensgefühl». Seither teilt er sich das Land mit seinen Hühnern, Ziegen, Eseln und einigen Wollsauen, die er Sauwohlen nennt.

Die Abgeschiedenheit ist Fluch und Segen

Kaum zu glauben, dass dieses Mini-Tessin im Kanton St.Gallen liegt, nur eine gute öV-Stunde von der Hauptstadt entfernt. Dank dem Walensee und der Lage des Orts am Fuss der steil abfallenden Sonnenseite der Churfirsten herrscht hier ein fast schon südländisches Klima mit hoher Biodiversität. Der Frühling kommt früh, der Sommer geht spät, der Winter bleibt tendenziell mild. Motorisiert muss man hier aber nicht einfahren wollen, denn Quinten ist komplett autofrei. Das ländliche Idyll ist nur per Schiff oder über Wanderwege zu erreichen – wobei dort nicht alles so idyllisch ist, wie es scheint, aber dazu später.

Seit 1803 gehört Quinten zur politischen Gemeinde Quarten. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebten hier noch an die 100 Menschen, heute sind es nicht einmal mehr 40, die Ferienhausbesitzer:innen sind in der Überzahl. Einst war Quinten ein richtiges Dorf mit allem Drum und Dran, samt kleinem Laden und regem Schiffshandel.

In den 70er-Jahren wurde die Schule geschlossen, die Post war 2004 dran, zum Einkaufen muss man heute nach Murg, Unterterzen oder Walenstadt. Wobei es sich da vor allem um nicht alltägliche Güter handelt, denn die Quintner:innen sind nach wie vor geübt darin, sich selber zu versorgen. Nebst Wein, Feigen und Fisch gibt es auch eigenen Senf in Quinten.

Der Blick vom Quintner Rebberg hinunter zum Walensee

Die Abgeschiedenheit ist Segen und Fluch zugleich. Hier ticken die Uhren anders, wenn überhaupt. Quinten ist fernab von Schwerverkehr, Stadttrubel und Scheinfortschritt.

Man fühlt sich wie zurückversetzt in eine romantische Vorzeit, jeden Moment könnte Heidi mit dem Geissenpeter über die Magerwiese gesprungen kommen. Oder Paula Walser, die legendäre Quintner Ziegenhirtin von anno dazumal, die jeweils morgens um fünf zur Alp Laubegg aufbrach und dort oben den ganzen Tag Heu einbrachte, bis sie die Tiere abends wieder zur Allmeind trieb, einem gemeinschaftlichen Gemeindegut oberhalb von Quinten.

Tourismus ja, aber sanft

Andererseits sterben dem Dorf die Leute weg. Für Familien ist das Leben hier unpraktisch. Früher sind die Kinder und Jugendlichen noch mit dem Weidling, einem Quintner Holzboot, über den See zur Schule gerudert, heute käme die KESB, würde man sie allein aufs Wasser lassen. Der Tourismus spielt zwar eine Rolle, aber dieser allein ist auch nicht nachhaltig, nur schon aufgrund des beschränkten Platzangebots.

Das sieht auch Ortspräsident Alois Janser so: «Wir müssen auf sanften Tourismus setzen, auch aus Rücksicht auf die Natur», erklärt der 75-Jährige und betont, dass er «ein waschechter Quintner» sei, wie schon seine Vorfahren. 2016 trat er nach 15 Jahren als Ortspräsident zurück, Anfang Jahr hat er das Amt erneut übernommen. Er schätzt am meisten das Klima und die Ruhe in Quinten. Wobei es damit je länger, je mehr vorbei sei, da die Leute seit Corona «massenweise» nach Quinten kämen. «Ich schätze, dass wir heute doppelt so viele Touristen haben wie davor. Mittlerweile müssen wir samstags und sonntags die Abfallkübel leeren.»

Grundsätzlich findet er es nicht schlecht, dass wieder mehr Leute das Dorf besuchen, vor allem, weil sie die einheimische Wirtschaft ankurbelten. Aber es gebe auch die Kehrseite: «Bei mir haben sich Leute gemeldet, die früher oft nach Quinten gekommen sind, aber jetzt nicht mehr so gerne da sind, weil es ihnen zu viele Touristen hat. Sie wollen nicht warten, bis sie im Restaurant einen Platz bekommen und vermissen die Ruhe und Einzigartigkeit.»

Und abseits des Tourismus? Seit die grösste Einnahmequelle der Ortsgemeinde, der Steinbruch Schnür, 2011 stillgelegt wurde, sei es schwer geworden, Wertschöpfung vor Ort zu generieren, erklärt Janser. Die Landwirtschaftsfläche und der Platz allgemein seien begrenzt. «Ein Weg, um Quinten wieder zu beleben, wäre der Ausbau des öffentlichen Verkehrs Murg-Quinten mit allfälliger finanzieller Unterstützung durch die öffentliche Hand, damit wieder mehr Leute nach Quinten ziehen. Aber auch ihnen muss klar sein: Wir sind nicht vergleichbar mit einer Stadt. Wer in Quinten lebt, muss naturverbunden sein und die Ruhe schätzen.»

Die Wirtschaft vor Ort fördern

Die 2017 gegründete Stiftung «Quinten lebt» will dem Aussterben entgegenwirken, indem sie Arbeitsplätze und Wohnraum vor Ort schafft. Ziel ist es, «die wirtschaftliche Prosperität in Quinten zu fördern». Drei Projekte hat sie in den letzten Jahren in Angriff genommen, so auch das «Dörfli 1370»: Aus einer einstigen Bauruine mitten im Zentrum wurde ein zeitgenössischer Bau, der zwei Wohnungen, ein Bed & Breakfast mit Feinkost-Boutique und einen Gastrobetrieb beherbergt, samt Feuerstelle im Innenbereich. Letzten Sommer wurde die Eröffnung gefeiert.

Die ursprünglichen Natursteinmauern wurden mit Holz und Beton in den Neubau integriert – ein architektonisches Bijou. Man kann es nicht verfehlen, wenn man den steilen Weg vom Hafen hochläuft. Umrahmt von Palmen und anderem Grün sitzen ein paar gutgelaunte Hotelgäste bei einheimischem Weisswein unter dem Vordach des Aussenbereichs. Die letzten Gewittertropfen kullern von den Blättern, von unten her tuckert ein kleiner Handtraktor mit frischem Proviant für das Haus den Stich hoch.

 

Ein weiteres «Quinten lebt»-Projekt ist das Raupenhotel. Wandert man von Weesen her nach Quinten, kommt man an der dazugehörigen Maulbeerplantage vorbei. Um 1850 wurde in Quinten schon einmal Rohseide produziert, allerdings nicht für sehr lange. Seit 2017 leben hier wieder Seidenraupen, etwa 10’000 sind es derzeit, die zusammen etwa 300 Kilogramm Maulbeerblätter vertilgen. Das Hotel bietet aber Platz für bis zu 60’000 Tiere und soll in den kommenden Jahren ausgebucht werden. Die Rohseide wird in Zusammenarbeit mit Swiss Silk weiterverarbeitet, so entstehen edle Portemonnaies, Tücher und Bucheinbände.

Standortfaktor Kultur

Die Kultur könnte ebenfalls frischen Wind nach Quinten bringen – Weinbauer Cadonau engagiert sich auch diesbezüglich. In einem der Rebberge, die er pachtet, hat er mit Rückendeckung des Schützenvereins 2017 eine Outdoor-Kulturbühne installiert, gleich neben dem Schützenhaus. Platz für maximal 100 Leute, nicht viel mehr als ein Gerüst mit einer Plache darüber, links neben der Bühne steht ein Toitoi-WC.

Seit einigen Jahren veranstaltet Cadonau hier im Sommer ein loses Kulturprogramm, unter anderem das «Anarchie im Weinberg»-Poetry-Slam-Festival, das er zusammen mit Sebastian 23 organisiert, einem der bekanntesten Slammer im deutschen Sprachraum. Auch klassische Konzerte und Theaterstücke wurden auf der Kulturbühne mitten in den Reben schon aufgeführt. Dahinter steht der Verein Kultur Pur mit dem Zweck der «Förderung der Kultur und der Vermarktung einheimischer Produkte».

Für diesen Sommer haben sich Hazel Brugger, Friederike Becht und Josef Hader angekündigt – nicht gerade kleine Kaliber. Soweit soll es aber nicht kommen, wenns nach den Ortsbürgern geht. Cadonau soll die Bühne bis Anfang Juli abbauen. Was ist passiert?

Er erzählt die Geschichte so: Die letzten vier Jahre habe alles bestens funktioniert, niemand habe sich beschwert, obwohl die Bühne und das Schützenhaus ausserhalb der Bauzone, also in der Landwirtschaftszone stünden. Der Schützenverein, wo er selber auch Mitglied ist, sei sogar froh gewesen um die Miete, die er fürs Haus gezahlt habe während der Anlässe. Mit den unklaren Rechtsverhältnissen sei ihm dennoch nicht ganz wohl gewesen, also habe er Ende 2019 eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben und anhand dieser ein Projekt eingereicht bei der Ortsgemeinde, um die Bühne zu legalisieren – auch weil sich der Kulturverein eine Eventküche in zwei alten Schiffscontainern neben der Bühne wünschte.

Die Antwort der Ortsgemeinde: njet, alles abräumen und zurückbauen. Ein herber Schlag für Cadonau, der sich auf den Kultursommer im Weinberg gefreut hat. «Ich verstehe nicht, warum nach all den Jahren plötzlich Schluss sein soll», sagt er beim Zmittag auf seinem Hof. «Die Kulturveranstaltungen tragen ja auch zur Wertschöpfung bei. Gerade jetzt mit Corona, wo auch wir in Quinten unter Umsatzeinbussen leiden, sind wir darauf angewiesen. Warum kann man nicht etwas kulanter sein und seitens der Behörden dabei helfen, Dinge zu ermöglichen? Bei euch in der Stadt St.Gallen geht das ja auch.»

Unversöhnliche Ortsgemeinde

Ortsgemeindepräsident Alois Janser will diese Kritik nicht auf sich sitzen lassen. Man könne geteilter Meinung sein über die Bühne, sagt er. Ihm stosse vor allem die Art und Weise sauer auf. «Man kann nicht einfach etwas in der Landwirtschaftszone bauen und dann im Nachhinein eine Bewilligung einholen. Der Kanton gelangte im Februar 2021 an die St.Galler Gemeinden, mit der Information, dass das Amt für Raumentwicklung und Geoinformation (AREG) vertieft prüft, ob illegale Bauten rückgängig zu machen sind. Wir mussten also einschreiten, weil keine Baubewilligung bestand und nicht zuletzt auch aus Sicherheitsaspekten.» Die Bühne als solches störe ihn nicht, aber sie müsse Suva-gerecht gebaut sein und ein ordentliches Bewilligungsverfahren durchlaufen.

Mehr will Janser dazu nicht sagen. Aber man wird den Eindruck nicht los, dass der «waschechte Quintner» und der zugezogene, umtriebige Weinbauer sich nicht so grün sind wie die jungen Triebe des Pinot Blanc. Sicher wäre es an der Zeit, die Kulturbühne im Rebberg zu legalisieren – genau das ist der ausdrückliche Wunsch des Vereins Kultur Pur. Fragwürdig ist es dennoch, dass die Bühne ausgerechnet in jenen vier Jahren, als Janser nicht Ortspräsident war, niemanden wirklich gestört hat. Und dass sie jetzt, wo er zurück im Amt ist, so plötzlich abgebaut werden muss – statt dass man seitens der Ortsgemeinde dabei hilft, den Betrieb zu legalisieren.

Cadonau hofft, dass man sich doch noch irgendwie findet. «Quinten muss bereit sein, neue Wege zu gehen, wenn es auch für künftige Generationen attraktiv sein soll», sagt er und lässt seinen Blick über die Rebberge schweifen. «Und die Kultur sollte ganz selbstverständlich auch Teil des Quintner Lebensgefühls sein.»

Mit dem Velo nach Weesen:

Man könnte von St.Gallen auch via Lichtensteig an den Walensee radeln, wers aber bergiger mag, sollte die Route über Schwellbrunn, Hemberg und Ricken nehmen. Bis Herisau ist man aufgewärmt. Die geschlängelte Gerade danach sollte man geniessen, bevor es etwa drei Kilometer hoch nach Schwellbrunn geht. Oben wird man mit schönstem Bergpanorama belohnt und auf der Strecke von Schönengrund über Bächli kann man nochmal die Beine ausschütteln. Danach gehts auf zwei Kilometern und über 200 Höhenmeter steil bergauf bis zum Hemberg. Erholen kann man sich auf der Abfahrt nach Wattwil. Man muss dort gar nicht ganz hineinfahren, denn via Ulisbach gelangt man auf die Alte Schönenbergstrasse, die über den Ricken führt – eine traumhafte Route fernab vom Autoverkehr. Von da an gehts wieder bergab über Gommiswald nach Kaltbrunn, wo auch die diesjährige Tour de Suisse hinführte. Die letzten 15 Kilometer über Schänis nach Weesen sind grösstenteils flach und eignen sich tipptopp zum Ausfahren.

Die Tour ist rund 70 Kilometer lang und umfasst gut 1000 Höhenmeter, ohne Elektroantrieb machbar in dreieinhalb Stunden.

 

Zu Fuss nach Quinten:

Die Walensee-Gegend lässt sich prima erwandern. Nach Quinten gelangt man von Walenstadt oder von Weesen her. Die Wanderung Weesen-Quinten ist dramaturgisch abwechslungsreich, aber auch nicht ganz ohne. Gutes Schuhwerk und Trittsicherheit
sind Voraussetzung, Kinderwagen gehören aufs Schiff.

Zuerst geht es einige Kilometer geradeaus über Fli bis nach Betlis. In die steilabfallende Bergwand wurden mehrere Tunnels gehauen, von denen immer wieder Seitengänge abgehen, die den Blick auf den Walensee öffnen. Ab Betlis geht es langsam bergauf zu den Seerenbachfällen – der höchsten Wasserfallkaskade Zentraleuropas mit einer Gesamthöhe von 585 Metern. Über schmale Stege gelangt man dann durch den Wald auf eine kleine Hochebene mit verschnörkelten Häusern, wo man sich ein bisschen fühlt wie im grünen Auenland. Danach wird es nochmal steil und der Wald wieder dichter. Nach dem alten Steinbruch ist es geschafft, von da an geht es über dicke Wurzeln und Felsen rasant bergab bis nach Quinten.

Die Wanderung ist 10 Kilometer lang und umfasst etwa 400 Höhenmeter. Unterwegs gibt es Grillstellen und Einkehrmöglichkeiten. Gemütliche Wandersleute sollten drei bis vier Stunden einrechnen, ambitionierte etwa zwei.

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