, 17. Juni 2024
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Am Wegesrand ein Gegenstand

Wieviel Sehnsucht steckt in einem Aschenbecher? Ganz schön viel. Zumindest, wenn wir durch die St. Galler Mülenenschlucht vom Weltkulturerbe zu den Weieren aufsteigen und auf dem Podest der Klause zwei Exemplaren begegnen. von Ursula Badrutt

Wir erkennen sie sofort. Diese verbreiteten, weil formvollendeten, funktional perfektionierten, klassisch schlichten Dinger aus dem Hause Ott im thurgauischen Affeltrangen mögen wir präzis wegen dieser Merkmale, auch ohne selbst zu rauchen und somit ohne von ihrer eigentlichen Funktion Gebrauch zu machen. Es geht um die Kraft von Sachen und ihre Fähigkeit, unabhängig von ihrer industriellen oder handwerklichen Herstellungsart uns in Beziehungen zu verwickeln, zum Geschichten- und Erinnerungsspeicher und Visionenentwickler zu werden.

Aufmerksamkeit dem Alltäglichen

In vertrautem Silberweiss-Rot, nahe der Farbigkeit von Wanderwegmarkierungen, winken sie uns in ihrer markanten Position schon von Weitem und gleich im Doppelpack zu. Format in Übergrösse und Platzierung signalisieren: Es geht um mehr als um Aschenbecher. Die Werkbezeichnung bestätigt den eingeschlagenen Weg der Wahrnehmung: Zwei Aschenbecher. (That’s us, before we got there, that’s morning time, before we got there).

Michael Bodenmann interessiert sich für übergeordnete Bedeutungsmomente von Dingen und Situationen, die uns so selbstverständlich im Alltag begleiten, dass wir sie erst wirklich wahrnehmen, wenn sie nicht (mehr) zur Hand sind. Oder aus dem gewohnten Blickwinkel verschoben. Sowohl in seiner fotografischen als auch installativen Arbeit geht der Künstler diesen Momenten des Gewahrwerdens nach, setzt dem kaum fassbaren Augenblick, in dem unvermittelt eine Erinnerung aufblitzt oder versunkene Gefühle anklopfen, die nostalgisch, schmerzhaft, sehnsüchtig, auch befremdend sein können, eine Art Denkmal.

Bodenmann macht die Poesie zum Gegenstand. Das können eine gläserne Bodenleuchte in Zigarettenform sein, Ephemera wie Tickets, Notizen und Verpackungen, die hinter Glas verwahrt und somit nicht mehr greifbar sind, aber gegenwärtig bleiben. Es kann aber auch gleich eine ganze Bar sein, die gemeinsam mit Barbara Signer entwickelte «El gato muerto»-Bar, die aktuell in Teufen im Schopf neben dem Zeughaus ihre temporäre Bleibe hat und die nicht nur unzählige jener Gegenstände, welche Erinnerungen sowohl beständig als auch flüchtig wie Rauchgeruch an sich binden, sondern auch Menschen zusammenbringt.

In Gleichheit zusammenstehen

In der Klause am steilen Stutz unter St.Georgen nun diese seltsame Verdoppelung von originalen Aschenbechern, wie wir sie weiter oben auf der Badi-Liegewiese wiederfinden, oder hinter der Schule oder vor der Bar, wo sie ihre Dienste anbieten. Etwas isoliert und ausgestellt stehen sie da auf der gemeinsamen Fussplatte vereint, die Behälter leicht voneinander abgedreht, möglichen Benutzer:innen zugewandt. Ein übers Eck greifendes Verbindungselement zwischen den beiden Behältern hält sie zusammen.

Zwei Aschenbecher. (That’s us, before we got there, that’s morning time, before we got there): bis 4. August, Die Klause, Mülenenschlucht St. Gallen

dieklause.ch

Die exakte Vergrösserung der funktionstüchtigen Aschenbecher samt abnehmbarem Deckel aus Aluminium und Stahl, umgesetzt von Florian Kunz von Metallzone Basel, orientiert sich mit 171 cm Höhe am Menschenmass, am Künstler mit derselben Körpergrösse. Zwei Aschenbecher. (That’s us, before we got there, that’s morning time, before we got there) wird zum Bild fürs Zusammenstehen. Für den Moment, wo fixe Tisch- und Gesellschaftsordnungen sich auflösen und um die Aschenbecher neue Formationen entstehen.

Sie stehen auch für die Möglichkeit, Verbindungen, auch Verbindlichkeit zwischen Menschen oder Menschengruppen herzustellen, die sonst nicht zusammenstehen. Sie bieten eine Metapher für die Notwendigkeit von mehr Nähe und Menschlichkeit dank gemeinsamem Erleben und sozialem Begegnen, bei dem es nicht um Unterschiede geht, sondern um Gleichheit. Die Aschenbecher machen es vor. Uns und der Welt. Gut denkbar, dass sie das Podest auch gerne verliessen und sich nach Geselligkeit statt Zurschaustellung auf Augenhöhe umschauten.

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