Als Putin noch Putin war

Der Dokumentarfilmer Vitalij Manskij spürt in «Putin’s Witnesses» den Ursprüngen des russischen Demokratieverlustes nach. Der Film, aktuell im St.Galler Kinok zu sehen, zeigt die Elite im Kreml aus ungewohnter Nähe. von Adrian Lemmenmeier
Von  Gastbeitrag

Putin – das Schaltjahr. So hiess der Film, den Vitalij Manskij 2001 im russischen Fernsehen veröffentlichte. Der Titel hätte auch zu Manskijs neustem Streifen Putin’s Witnesses gepasst. Denn die Filme haben dasselbe Thema: Das erste Jahr Vladimir Putins als Präsident der russischen Föderation.

Der Blickwinkel auf das Thema hat sich in den 18 Jahren, die zwischen den beiden Filmen liegen, allerdings verändert. So hat Manskij Vladimir Putin 2000 noch interessant und sympathisch gefunden, wie er in einem Interview gegenüber dem Internetfernsehen  «Nostajaschee vremja» sagt. Im Jahr 2012 aber sei die Sympathie verflogen. Putin liess sich damals nach der Intermezzo-Präsidentschaft Dmitrij Medvedevs erneut ins höchste Amt des Landes wählen.

Was seit Mittwoch im Kinok zu sehen ist, ist also der neue Blick Manskijs auf die Stunde Null von Putins Machtsystem. Manskij, dessen entwaffnende Nordkorea-Doku Im Strahl der Sonne auch von Netflix vertrieben wurde, lässt dabei aus dem Off die These durchblicken, dass man bereits 2000 hätte erkennen können, dass Putin die russische Demokratie aushöhlen werde. Das wiederum mache alle zu «Zeugen Putins». Oder, um das Schlusszitat des Filmes zu bemühen: «Wir alle wurden freiwillig zu Geiseln eines Mannes, der uns eine bessere Zukunft versprach, die heute stark an die dunkle Vergangenheit erinnert.» Demokratieverlust als Kollektivschuld.

Mit Putin in der Panzerlimo

Man muss Manskijs Einschätzung nicht teilen, um sein neustes Werk zu geniessen. Die Stärke des Films liegt in den (bisher teilweise unveröffentlichten) Aufnahmen aus Manskijs Archiven. Als Leiter der Dokumentarfilmabteilung des russischen Staatsfernsehens drehte er zu Beginn des neuen Jahrtausends Filme über Putin, Jelzin und Gorbatschev.

Manskij zeigt uns Putin, der in der gepanzerten Limousine sagt, er freue sich, nach der Präsidentschaft wieder das Leben eines normalen Bürgers zu führen. An anderer Stelle erklärt Putin in einem längeren Gespräch mit dem Filmemacher, er lasse die Nationalhymne nur deshalb wieder mit der alten sowjetischen Melodie erklingen, weil er damit seine Beliebtheit bei der älteren Generation erhöhe.

Solche offene Statements stehen in schroffem Kontrast zum schelmischen Wachsgesicht, das Putin heute vor Kameras aufzieht. Die pragmatische Instrumentalisierung der sowjetischen Geschichte zeigt ausserdem, wie problematisch Putin-Interpretationen wie jene des amerikanischen Historikers Timothy Snyder sind. Snyder führt in seinem neuen Buch Wege in die Unfreiheit die These ins Feld, Putins Politik sei weitgehend von den Ideen slawophiler Philosophen bestimmt. Putin’s Witnesses erlaubt einen anderen Schluss: Ideen und Symbole werden zum Machtausbau eingesetzt. Nicht umgekehrt.

Vorgänger Jelzin (Mitte) bei den Feiern zur Wahl Putins.

Fast skurril sind die Szenen im Haus der Familie Jelzin. Der gesundheitlich sichtlich angeschlagene Ex-Präsident erzählt zwischen Biedermeier-Möbeln, wie schwer es gewesen sei, sich für den richtigen Kandidaten als Nachfolger zu entscheiden. Jelzin hatte Putin, der seit Sommer 1999 Premierminister war, bei seinem Rücktritt Ende Jahr als Nachfolger präsentiert. Putin leitete die Regierungsgeschäfte bis zur offiziellen Wahl im März. Als er die Wahl mit 52,9 Prozent der Stimmen schafft, will ihm Jelzin per Telefon gratulieren, wartet aber vergebens auf einen Rückruf. Gegenüber Journalisten versichert er, mit Putin als Präsident bliebe die Pressefreiheit erhalten.

Opfer des eigenen Systems

Das Leben eines Monarchen wolle er auf keinen Fall führen, sagt Putin gegen Ende des Filmes in die Kamera. «Diese Leute gehören nicht mehr sich selbst» – was nicht erstrebenswert sei. Manskij zufolge hat Putin aber mittlerweile dasselbe Schicksal ereilt. «Putin ist längst nicht mehr Putin», sagte Manskij im Interview mit «Nastojaschee vremja». Er sei vielmehr ein Teil eines komplexen Machtsystems, das seinen Namen trage. Selbst wenn Putin wolle, könne er das System nicht abschaffen. «Putin ist wohl das erste Opfer des Putinismus’.»

Regisseur Manskij, der heute im Exil in Riga lebt, über «Putins Witnesses»: