Als der Vietnamkrieg nach Arbon kam
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Die «Schütti» ist heute der familienfreundlichste Ort in der Stadt am Bodensee. Durch Erdaufschüttungen entstand am westlichen Ufer der Seepark. Im Sommer herrscht hier buntes, multikulturelles Treiben: Kinder lassen ihre Frisbees schwirren, Väter grillieren, Mütter bereiten das Picknick an den Holztischen vor und Hunde geniessen es, ohne Leine umherspringen zu dürfen.
Vor 50 Jahren aber ging es hier infernalisch zu und her: Eine ganze Wohnstrasse stand in Flammen, überall Soldaten, vom Scheitel bis zur Sohle in weisse Spezialanzüge verpackt. Dazwischen Kinder und Erwachsene, die aus der Feuerhölle geführt wurden. In sicherem Abstand eine Tribüne, auf welcher der Fünf-Sterne-General aus den USA sass, flankiert von den Schweizer Militärs: Generalstabschef Oberstkorpskommandant Gygli und Waffenchef der Luftschutztruppen Oberstbrigadier Jeanmaire. Letzterer wurde am 17. Juni 1977 als Landesverräter zu 18 Jahren Haft verurteilt, wovon er 12 Jahre absass.
Keine Haft, aber für ein paar Stunden Polizeigewahrsam gab es für zwei Demonstranten, die Flugblätter gegen den Westmoreland-Besuch in Arbon verteilten. Das Sicherheitsaufgebot für den Schutz des Yankee-Generals war enorm. 65 Polizisten und 14 Aspiranten sicherten mit Hunden das Gelände der Militärübung. Am Seeufer patrouillierten zwei Boote. Ein Zug Grenadiere stand schon mal für alle Fälle bereit. Das Areal war hermetisch durch Soldaten mit Karabinern im Anschlag abgeriegelt. Sie lagen hinter Stacheldrahtverhauen und beäugten die paar Demonstranten, die bis zu ihren Sperren gelangen konnten. Ob die Waffen geladen waren und welche Instruktionen die Soldaten hatten, ist nicht bekannt. Vietnamkrieg on Tour in Arbon, schon das sorgte für Gänsehaut.
1000 Liter Napalm – ein «Höllenspektakel»
Dargeboten am Bodensee wurde die Kriegsshow vom stadtzürcherischen Luftschutzbataillon 25. In der Zeitschrift «Schutz und Wehr» (Heft 11–12, Jahrgang 1969) erschien ein Bericht: «Demonstration der Luftschutztruppe vor General Westmoreland», der sich wie das Drehbuch für einen Kriegsfilm liest: «Die WK-Truppe hatte unter Leitung ihres Kommandanten mit Hilfe von sechs abbruchreifen Wohnhäusern ein ausgedehntes Schadenquartier hergerichtet, in dem nach der Ankunft des hohen Gastes mit Brandbomben und rund 1000 Litern phlegmatisiertem Napalm sowie einer Gebäudesprengung ein Höllenspektakel entfacht wurde», heisst es da.
Der Theater-Effekt mit dem Napalm war natürlich für den Vietnam-Haudegen ein Déjà-vu und für die Schweizer Luftschutz-Krieger ein dem Gesamteindruck ihres Auftritts dienliches dramaturgisches Stilmittel. «Da es sich keineswegs darum handeln konnte, dem amerikanischen Gast in Dreiviertelstunden ein umfassendes Bild der Luftschutztruppen zu vermitteln, legte die Übungsleitung den ganzen Einsatz als perfekte Show an, die ihr Ziel denn auch keineswegs verfehlte», heisst es weiter zum Konzept der Performance. Damit hatte man emotional genau das Richtige geboten. Der Vietnam-Krieger tat den begeisterten Ausruf: «Exceptional!»
Wenn im Thurgau Krieg gespielt wird und erst noch vor einem kriegserprobten General, dann geschieht das in echt. In der Zeitschrift «Schutz und Wehr» heisst es zur Arboner Übung weiter: «Zur Beschränkung auf eine Schau zählte auch eine gewisse Systematisierung des Ablaufs der Aktion: Eine Hauswehr – zusammengestellt aus thurgauischen Ortschefs – bemühte sich nach der Brandlegung vergeblich, die Schadenentwicklung unter Kontrolle zu bringen, so dass der Ortschef die Hilfe der zugeteilten LsKp anforderte. Diese trat zuerst mit ihren Führungsorganen, dann mit einem leichten und in einer späteren Phase mit einem zweiten, schweren Zug in Erscheinung. Auch bei dieser Staffelung des Truppeneinsatzes stand die Absicht im Vordergrund, dem Zuschauer die Steigerung des Einsatzes in personeller wie materieller Hinsicht vor Augen zu führen.»
Abberufung wegen Atombombenplänen
Westmoreland, der nie wahrhaben wollte, dass die USA den Vietnamkrieg verloren hatten, sah die Dinge ähnlich wie die Schweizer Krieger: «Es ist richtiger zu sagen, dass unser Land seine Pflichten gegenüber Südvietnam nicht erfüllt hat», deutete er die Niederlage um. Und weiter: «Die USA haben die Stellung zehn Jahre gehalten und verhindert, dass die Dominos fallen.» Damit bezog er sich auf die «Dominotheorie» des Kalten Krieges, die besagte, dass ohne Gegenwehr ein Land nach dem anderen an die Kommunisten fallen würde.
Westmoreland war zwischen 1964 und 1968 Oberkommandierender der US-Streitkräfte in Vietnam. In dieser Zeit stieg die Zahl der US-Soldaten von 15’000 auf 500’000. Westmoreland begann rücksichtslos Napalmbomben gegen den Vietcong und die Zivilbevölkerung einzusetzen. Um der Guerilla die Deckung zu nehmen, liess er auch mit dem hochgiftigen Kampfstoff Agent Orange unzählige Quadratkilometer Dschungel entlauben. Das Massaker von My Lai, bei dem am 16. März 1968 US-Soldaten 504 Zivilisten töteten, fiel ebenfalls in die Zeit von Westmorelands Oberkommando.
Der General vertrat die Strategie, dass durch die Intensivierung der Bombardierungen der Vietcong zerschlagen werden könne. Die Tet-Offensive der Guerilla 1968 machte aber diese Strategie zur Makulatur. Im Mai 1968 forderte Westmoreland den Einsatz von Nuklearwaffen gegen Hanoi. Für den damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson war das zu viel. Er verfügte die Abberufung des Generals aus Vietnam und setzte ihn in der Heimat als Generalstabschef der US-Army ein. Westmoreland starb 2005 im Alter von 91 Jahren.
Aussenpolitik und Neutralität – ein diplomatisches Minenfeld
Warum wurde Westmoreland überhaupt in die Schweiz eingeladen? Das wollte PdA-Nationalrat Jean Vincent am 22. September 1969 vom Bundesrat wissen. Die Landesregierung gab zur Antwort, dass der Schweizer Generalstabschef Gygli im Frühjahr 1969 von den USA zu einem Besuch eingeladen worden sei, deshalb sei Westmoreland, der Generalstabschef der US-Armee, vom 11. bis zum 14. September 1969 zu einem Gegenbesuch in die Schweiz eingeladen worden.
Just an dem Tag, als der Yankee-General in der Schweiz empfangen wurde, sandte der Bundesrat ein Beileidstelegramm nach Hanoi. Der Präsident Nordvietnams, Ho Chi-Minh, war am 2. September 1969 verstorben. Der Versuch der Schweiz, Neutralität und Aussenpolitik in Einklang zu bringen, hat immer wieder Widersprüche hervorgerufen.
Dass der Besuch eines amerikanischen Kriegsverbrechers aber zwei engagierte Nationalräte, Arthur Villard und Hansjörg Braunschweig (beide SP), in die Bredouille bringen konnte, ist sehr viel bedenklicher. Villard, Grün- der der Internationale der Kriegsdienstgegner (IdK), wurde 1971 vom Obergericht des Kantons Bern wegen Aufforderung zur Verletzung der Militärischen Dienstpflicht zu einer Gefängnisstrafe von 30 Tagen verurteilt. Er hatte bei einer Kundgebung gegen den Westmoreland-Besuch in Bern in einer Rede darauf hingewiesen, dass auch in der Schweiz der Militärdienst verweigert werden könne, wie dies junge US-Bürger aus Protest gegen den Vietnamkrieg täten. Braunschweig organisierte eine Kundgebung in Bremgarten, wo Westmoreland eine RS besuchte. Daraufhin wurden sein Telefon und sein Postverkehr überwacht. Das erfuhr er aber erst 20 Jahre später aus seiner Fiche.
Zurück auf der «Schütti» in Arbon, wo im Sommer so viel grillendes und chillendes Familienleben herrscht. Es wird Abend, im westlichen Bodensee versinkt sanft gerötet die Sonne. Es könnte der Abspann eines Hollywood-Streifens mit fettem Happyend sein. Aber die Idylle ist gestört durch den Mann, der genau da vor 50 Jahren auf der Tribüne sass und sich sein tägliches blutiges Handwerk gewissermassen als Zeitvertreib vorführen liess.