Alles unter Kontrolle – bis zur nächsten Störung

Die Ausstellung «Total Recourse – Im Lauf der Dinge» lädt zum Nachdenken über das Verhältnis von Mensch und Technik ein. Toll ist, dass sie an einem Ort gezeigt wird, der mediengeschichtlich hoch interessant und dennoch fast in Vergessenheit geraten ist. 

Von  Judith Schuck
Boris Petrovsky und die Ausstellungs-Aufsicht suchen nach dem Fehler. (Bilder: Judith Schuck)

Meditativ zuckeln je ein weisser und ein roter Eisenbahnwaggon im Wechsel über die Schienenkonstruktion in Form einer liegenden Acht. In der Mitte, wo sich die Endlosschleife kreuzt, passieren die selbsttätig, ohne Lok fahrenden Wagen den Schnittpunkt im Reissverschlussverfahren.

Zwei gerade Schienenstücke verlassen die Schleife und führen raus aus der Unendlichkeit von gleichförmigen Bewegungen – «oder rein», wie der Künstler Boris Petrovsky anmerkt. Insgesamt kursieren 42 Containerwagen von 62 Zentimetern Länge und 15 Zentimetern Breite über das 42 Meter lange Schienennetz, das auf rot-weiss gestreiften fast drei Meter hohen Stelzen steht.

Schüttelt man lange genug den Kopf, ergeben die rot-weissen Leuchtstreifen auf den Wagen die Worte «True, False».

Die Stelzen erinnern an überdimensionale Mikado-Stäbchen; vor allem, wenn sie durch die von den ruckelnden Wagen ausgelöste Erschütterung zu wackeln beginnen. Sie schwingen elastisch mit. Dies biete mehr Stabilität als eine fixierte, starre Konstruktion, sagt Boris Petrovsky über seine Installation «Total Recourse – Im Lauf der Dinge». Gleichzeitig zeige die Fragilität aber auch den Abgrund auf. Unter den Schienen stehend «bemerken die Zuschauer die Brüchigkeit, sie hören das Rumpeln der Wagen.»

Der Lauf der Dinge ändert sich

Doch was ist der Bezug zu Fischli und Weiss‘ Installation Der Lauf der Dinge von 1987? Das halbstündige Video des Schweizer Künstlerduos zeigt eine Kettenreaktion, ständig geschieht etwas Unerwartetes.

 

Petrovsky fing 1987 gerade an, sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Fischli und Weiss waren stete Inspiration. Doch der Lauf der Dinge habe sich über die Jahre geändert, sagt er. «Es ist nicht mehr alles wunderbar linear, sondern es gibt auch Parallelitäten sowie Verstülpungen von Echtzeit und Latenzen.» Das Lineare sei beherrschbar, das Parallele unbeherrschbar. «Das Ziel von Fischli und Weiss war: Alles soll durchlaufen. Bei mir bleibt alles stehen oder läuft einfach weiter.»

In der Raummitte ist die sogenannten «Kontrollillusion» platziert, Petrovskys Schaltkasten, über den die Wagen scheinbar gesteuert werden können. Der Ausstellungsraum wird gleichzeitig von zwei Besuchern zusammen mit der Aufsicht betreten. Wird der Deckel der «Kontrollillusion» zugeklappt, verwandelt sie sich zum Rednerpult. Dem Künstler geht es hier um die Reflexion über Sprache und Sprachlosigkeit. Der Kreislauf der Züge wirkt beinahe hypnotisch auf die Betrachter. Wer hat hier was zu sagen und wer beherrscht wen?

Frühes Silicon Valley in Konstanz

Boris Petrovsky bezeichnet «Total Recourse» als «aufgebauten Film». Die Ausstellung befindet sich in einer ehemaligen Fabrikhalle im Konstanzer Siemens-Areal. Der unendlichen Fahrt der Wagen kann sowohl von unten als auch von oben zugeschaut werden. Von Oben tritt der filmische Charakter von «Total Recourse» stärker hervor, denn die Zuschauer blicken durch Glasscheiben, die Distanz erzeugen, auf die repetitiven Bewegungen.

Das Spannende am Raum selbst ist, dass er in den 1960ern und 70ern von der Firma Telefunken als Prüffeld für grosse Rechenanlagen fungierte. Petrovsky hat noch einen persönlichen Bezug zu dieser Zeit, arbeitete doch sein Vater damals für Telefunken. Hier wurde Ende der 60er-Jahre die erste Computermaus mitentwickelt.

«Total Recourse – Im Lauf der Dinge»: bis 22. September, ehemaliges Siemens-Gelände Gebäude 5, Halle 5, Konstanz

petrovsky.de

«Der Firmenkomplex war damals so etwas wie das Silicon Valley Europas», erzählt Petrovsky, den schon als Kind die Lochkarten, die ihm sein Vater zum Spielen mitbrachte, faszinierten: «Was ist das?», habe er sich beim Anblick dieser frühen Datenspeichersysteme gefragt. Auf diesem Gelände seien zudem frühe Schrift- und Spracherkennungssysteme entstanden. Die «Ästhetik des Kontrollhaften» zusammen mit dem geschichtlichen Hintergrund des Areals gefallen ihm besonders am Ausstellungsort.

Wer kontrolliert hier wen?

Vier Jahre arbeitete er an «Total Recourse». Vor eineinhalb Jahren habe er begonnen, für diese Halle zu kämpfen, die er als ideal für sein Kunstwerk ansieht. Die Glasscheiben erinnern an ein Panoptikum, wenn auch in umgekehrter Weise, als der Entwurf für das Muster-Gefängnis von Jeremy Bentham, wie es Michel Foucault 1975 in Überwachen und Strafen beschreibt. Im Panoptikum steht der Überwachungsturm in der Mitte des Gefängnisbaus. Von dort aus haben die Aufsichtspersonen zu jederzeit Einblick in jede Zelle. Die Insassen sind unter permanenter Beobachtung.

Früher reales, heute fiktionales Prüffeld.

Bei «Total Recourse» gibt es in der Mitte zwar die «Kontrollillusion», die den Besuchern das Gefühl der Kontrolle über die Wagen per Schaltzentrale vermitteln soll. Wer dort unten steht, ist aber auch den Blicken durch die die Halle umgebenden Scheiben ausgesetzt. Und wie der Name «Kontrollillusion» schon sagt: Inwiefern können wir überhaupt die Bewegung der Wagen, die Technik kontrollieren?

Weitere Führungen:

24. August, 19 Uhr
31. August , 19 Uhr
6. September, 20 Uhr, Performance
8. September, 15 Uhr
13. September, 19 Uhr
20. September, 19 Uhr, Finissage: Der Anfang vom Ende vom Anfang – letztes Wochenende

Bestimmt dreimal kommt es innerhalb einer Stunde zum Crash von Wagen, die es nicht schaffen, die Kreuzung zur richtigen Zeit zu passieren. Hier muss die Aufsichtsperson eingreifen, und zwar mechanisch. Das Drücken der Knöpfe am Schaltsystem alleine reicht aber nicht aus. Sie muss mit einer Stange die Wagen auseinander schieben, damit sie weiterfahren können, immer die endlose Schleife entlang, bis zum nächsten Crash: «Mit dieser Arbeit möchte ich auch das Phänomen Störung/Kontrolle ins Verhältnis setzen», erklärt der Künstler.

Gewünschte und gefürchtete Katastrophen

«Die Anlage entwickelt immer wieder eine gewisse Eigendynamik», sagt Petrovsky, der sich schon seit seinem Kunststudium in Hamburg mit Systemtheorie und Kybernetik intensiv auseinandersetzte. «Ich kann nicht eingreifen und wehre mich gleichzeitig gegen ein perfektes Werk.» Es soll Fragen aufwerfen wie: Was ist gewollt und was ein Fehler?

«Total Recourse» sieht der Konstanzer als eine Art Konklusion seiner bisherigen Arbeiten: «Wo kommen meine Fragen her? Wie verhält sich Bild und Sprache zur Wirklichkeit? Oder die ständigen Paradoxien des Zusammenhangs von Wünschen und Nicht-Wollen wie das Herbeisehnen einer Katastrophe, die Sehnsucht nach dem Ernstfall und der gleichzeitigen Angst davor?»

Der Mensch sei heute schon sehr cyborghaft, Selbstoptimierungsprozesse würden maschinell gedacht. Wie bei der «Kontrollillusion» könne der Mensch zwar jede Menge Knöpfchen drücken, doch er könne nicht alles kontrollieren, sagt er. Und dennoch: «Überall sitzen Menschen hinter den Automaten. Wir sind von selbständigen Künstlichen Intelligenzen noch weit entfernt. Es stecken überall unsere Wünsche und Ängste dahinter.»