Alles ein bisschen geheim

Man findet sie in Savoyen, in Kärnten, in Graubünden und in vielen anderen Ecken Europas. Die Jenischen sind fast überall, doch oft unsichtbar. Das hat auch mit der Geschichte zu tun: In vielen Ländern wurden sie lange ausgegrenzt und diskriminiert, vertrieben und verfolgt. Auch in der Schweiz. Ab den 1920er-Jahren hat das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» im Auftrag der halbstaatlichen «Pro Juventute» systematisch fahrende und insbesondere jenische Familien auseinandergerissen. Man verfrachtete Kinder in Heime, zu fremden Familien oder als Verdingkinder auf Bauernhöfe und liess Jugendliche einweisen. Über 600 Fälle in vier Kantonen, darunter auch St. Gallen, sind dokumentiert. Zahlreiche gemeinnützige Einrichtungen, Amtsstellen, Schulen oder Pfarreien haben sich mitschuldig gemacht.
Ziel war es, die «Sippen» zu trennen, um so die «Vagantität» der fahrenden Menschen zu bekämpfen und ihnen einen sesshaften Lebensstil aufzuzwingen. Dieses Martyrium hatte erst in den frühen 70er-Jahren ein Ende, als der «Beobachter» über die Kindswegnahmen des «Hilfswerks» berichtete und der öffentliche Druck zu gross wurde. 1973 wurde es aufgelöst. Mittlerweile sind die Jenischen in der Schweiz als nationale Minderheit anerkannt, 2018 wurde ihre nomadische Lebensweise in die Liste der lebendigen Traditionen aufgenommen.
Doch viele Vorurteile sind geblieben. Diebe seien sie und Faulenzerinnen, ausserdem voller Läuse. Solche Sätze hört man bis heute und sie zeigen auch Wirkung: In den vergangenen Jahren wurden zweimal Durchgangs- und Standplätze für Fahrende in der Region abgelehnt, 2014 in Thal und 2016 in Gossau. Dabei sind die Kantone nach einem Bundesgerichtsurteil eigentlich verpflichtet, Durchgangsplätze anzubieten – in St. Gallen bräuchte es sechs, es gibt aber keinen einzigen.
Sieben Jahre im Mitsubishi
Kein Wunder, sind die Jenischen vorsichtig mit den «Ruächen», den Nicht-Fahrenden. Und wenn diese «Gesellschaftsmenschen» sie dann auch noch filmen wollen, erst recht. Dieses Misstrauen hat auch das zürcherisch-st.gallische Filmtrio während der Dreharbeiten an Ruäch zu spüren bekommen. Andreas Müller, Simon Guy Fässler und Marcel Bächtiger haben nur dank eines geheimnisvollen jenischen Freundes den Weg zu ihren Protagonist:innen gefunden. Sieben Jahre waren sie dann mit ihnen unterwegs. Und sie nähern sich nur langsam an, auch filmisch. Das ist geschickt gemacht, denn auch das Publikum braucht etwas Zeit, um es sich auf der metaphorischen Rückbank des Mitsubishi-Wohnmobils, mit dem die Crew unterwegs ist, gemütlich zu machen. Es ist eine dreiseitige Annäherung: zwischen Crew, Protagonist:innen und Publikum.
Etappenweise geht es näher an die Protagonist:innen und ihre Familien heran, nach Kärnten, Graubünden oder Richtung Haute-Savoye. Dort lebt zum Beispiel die Patriarchin Isabelle Gross. Anders als es das Klischee will, kämpft sie dafür, dass die Stadtverwaltung endlich die Chalets baut, welche ihr und ihrer Familie vor 30 Jahren versprochen wurden. Sie will bleiben, nicht fahren. Auch das ist jenische Identität. Und sie kämpft weiter für ihre Familie, selbst als ihr Körper zur Sesshaftigkeit gezwungen wird. Es muss weitergehen, Tränen müssen raus, sie sind heilsam, keine Schande.
Ruäch – Eine Reise ins jenische Europa: jetzt im Kinok St.Gallen.
10. September, 10:30 Uhr: Vorstellung und Gespräch mit den Regisseuren Andreas Müller und Marcel Bächtiger. Moderation: Marcel Elsener.
In Andeer auf dem Campingplatz lebt Lisbeth Sablonier mit ihrem Partner und Mama Irma. «Gross gekommen» ist sie in einem abgelegenen Haus im Albulatal, heute braust dort eine Schnellstrasse vorbei. Hätte ihre Mutter sie nicht rund um die Uhr beschützt, wäre auch Lisbeth in die Fänge des «Hilfswerks Kinder der Landstrasse» geraten. Opfer wurde die resolute Frau dennoch: Man hat sie als junge Erwachsene ohne ihr Wissen sterilisiert, so dass sie sich ihren Kinderwunsch nicht erfüllen konnte – kein Einzelfall, auch Männer wurden zwangssterilisiert.
Mulo oder Schmitterie? Egal! Lauf!
Mit ihren Schicksalen rücken die Porträtierten erst nach und nach heraus. Überhaupt ist alles ein bisschen geheim. Die Stellplätze, die Sprache und auch das Zauberstück, wie man Hundegagl zu Gold macht. Und die Protagonist:innen sind auch ein wenig stolz darauf, kokettieren gerne mit ihren Eigenarten und ihrer Herkunft. Dieses Pochen auf die jenischen Wurzeln, auf Abstammung und Abgrenzung gegen aussen mutet manchmal etwas schräg an, ist aber angesichts der leidvollen Geschichte der Jenischen wohl verständlich.
Nach knapp 120 Minuten hat man einiges über das jenische Leben gelernt. Zum Beispiel was der Mulo und was die Schmitterie ist und warum sich auch gestandene Männer und Frauen davor fürchten – vor beidem. Oder dass Wohlstand mehr mit wilden Waldspaziergängen und wehmütigen Liedern zu tun hat als mit wirtschaftlichem Erfolg. Und warum früher alles schlechter und gleichzeitig besser war. Andreas Müller, Simon Guy Fässler und Marcel Bächtiger ist mit Ruäch eine sehenswerte und feinfühlige Annäherung ans jenische Leben gelungen, ohne zu generalisieren. Nicht zuletzt, weil es kein Film über Jenische, sondern ein Film mit Jenischen ist.