, 3. Februar 2020
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Alle wollen gesund sein, aber alle wollen am Kranksein verdienen

Widersprüche im Gesundheitssystem, der Kostendruck der öffentlichen und die Rosinenpickerei der privaten Spitäler – und ein radikales Zukunftsmodell: Auf Spitalbesuch in Herisau, St.Gallen und im Thurgau.

Röntgenaufnahmen: von Mikael Häggström und der Saiten-Redaktion.

Die Blinddarmoperation war eine der (zum Glück seltenen) Spitalerfahrungen in unserer Familie. Vor ein paar Jahren war es, an einem Montag im Frühling, die Patientin litt unter grässlichen Schmerzen, der noch gleichentags aufgesuchte Hausarzt-Stellvertreter diagnostizierte unrichtig, in der folgenden Nacht waren die Schmerzen nicht mehr auszuhalten, wir fuhren in den Notfall im Kantonsspital St.Gallen. Nach Untersuchungen, viel Information und viel Warterei wurde die Patientin im Krankenwagen (ein Höllentrip zwischen Bodenwellen und Morphium-Übelkeitsschüben) ins Spital Rorschach verlegt, der Dependance des Kantonsspitals, und dort erfolgreich operiert. Eine Woche Spitalaufenthalt folgte, in Sachen Schmerzen strapaziös, von der Spitalumgebung her angenehm. «Unser Blinddarm» ging gut aus. An eine Rechnung des Spitals erinnern wir uns nicht.

Szenenwechsel. Das Zimmer für kleinere operative Eingriffe im Spital Herisau ist nüchtern, mit Geräten vollgepackt, in der Mitte die Liege für Untersuchungen. Hier treffen wir Yves Noël Balmer. Balmer ist in Form. Auf Facebook postet er Bilder von Bergtouren oder Schussfahrten auf dem Mountainbike. «Wenn ich mich körperlich fit halte, bin ich auch geistig leistungsfähiger», sagt er. Und: «Um die Verantwortung für den eigenen Körper können wir uns nicht drücken.» Das Feld, mit dem er sich beruflich beschäftigt, ist allerdings weniger fit: das Gesundheitswesen. Balmer ist als Regierungsrat seit einem guten halben Jahr für die Spitäler in Appenzell Ausserrhoden zuständig. Noch gehören drei öffentliche Spitäler dazu: die Spitäler Heiden und Herisau und das Psychiatrische Zentrum Herisau. Heiden gehört zu den Kandidaten für Spitalschliessungen in der Ostschweiz, und das seit Jahren; die Kontroversen um den Spitalverbund und die Defizite in Heiden haben schon Balmers Vorgänger Matthias Weishaupt das Leben schwer gemacht.

Regierungsrat Balmer verlangt eine «saubere Diagnose»

«Als Gesundheitsdirektor würde man sich natürlich wünschen, dass die Betten möglichst leer sind, denn das würde heissen: Der Bevölkerung geht es gut», sagt Balmer. Zugleich bräuchten aber die Spitäler eine gute Auslastung und seien Mindestfallzahlen ein wichtiges Qualitätskriterium. Und schon steckt man im zentralen Widerspruch des real existierenden Gesundheitswesens: Alle wollen gesund sein, aber alle verdienen am Kranksein – bloss sehr unterschiedlich.

Balmer, der mit Jahrgang 1978 jüngste Ostschweizer Gesundheitsdirektor, ist zugleich schon bald der dienstälteste. Rundherum treten seine Amtskolleginnen und -kollegen zurück. Die St.Galler Gesundheitsdirektorin Heidi Hanselmann scheidet nach 16 Jahren aus, die Innerrhoderin Antonia Fässler nach zehn Jahren, der Thurgauer Jakob Stark ist in den Ständerat gewählt worden. So unterschiedlich die Parteizugehörigkeiten (SP, CVP, SVP) und so individuell die Rücktrittsmotive, so gemeinsam ist dem Job zugleich, dass man sich mit ihm kaum Lorbeeren holt, aber viele Feinde macht. Das rote Tuch: Spitalschliessungen.

«Man geht nicht mehr dort, wo man wohnt, ins nächstgelegene Spital, sondern man wählt aus. Das ist die Realität, auf die sich die Spitäler und die Politik einstellen müssen.»

Yves Noël Balmer, Regierungsrat Kanton Appenzell Ausserrhoden

Regionalismus und «Einzelinteressen» gefährdeten die Wirtschaftlichkeit der Spitäler; mit einem Umbau der Spitalstrukturen «nach Effizienz-Kriterien» liessen sich Milliarden sparen, hat der Wirtschaftsprüfer PwC in einer Studie 2013 deklariert und den Spitälern eine Gewinnmarge (Ebitda) von zehn Prozent ins Pflichtenheft geschrieben. Die meisten, auch die Ostschweizer Kantone, gehorchen den Wirtschaftsprüfern. Wie der Neoliberalismus im Spitalwesen etabliert wurde, ist im Beitrag von Roman Hertler im Februarheft auf Seite 22 nachzulesen. Und wie sich «Regionalismus und Einzelinteressen» zur Stunde in der Ostschweizer Spitaldebatte breit machen, analysiert Andreas Kneubühler hier.

Was blieb den Spitälern? Sie setzten, weil sie mussten, auf Teufel komm raus auf Gewinn. Eine renommierte Kritikerin dieses Systems ist Annamaria Müller, früher Leiterin des Spitalamts Bern, heute Verwaltungsratspräsidentin des Fribourger Kantonsspitals. Die neue Spitalfinanzierung ab 2012 sei der «Startschuss für ein goldgräberhaftes Verhalten im Spitalwesen» gewesen. Es habe ein «Run auf die lukrativen Patienten» eingesetzt, es herrschten Zustände «wie im Wilden Westen», zitiert die Online-Plattform «medinside.ch» Annamaria Müller. Trotzdem erreichen bloss ein paar wenige Spitäler schweizweit die geforderte Zehn-Prozent-Marge. Die meisten liegen darunter und damit, rein betriebswirtschaftlich betrachtet, im roten Bereich

Auch der Spitalverbund Appenzell Ausserrhoden weist 2018 eine nach dieser Rentabilitätslogik zu tiefe Marge von 5,3 Prozent aus – immerhin wurden die Defizite der letzten Jahre aber massiv reduziert. Im Herisauer Eingriffszimmer will Gesundheitsdirektor Balmer denn auch nicht gleich von «Eingriffen» reden, sondern erst einmal «eine saubere Diagnose» machen. Diese lautet zum einen: Die freie Spitalwahl, wie sie seit der Revision des Krankenversicherungsgesetzes KVG 2012 national gilt, wird geschätzt und genutzt, auch in Ausserrhoden. «Man geht nicht mehr dort, wo man wohnt, ins nächstgelegene Spital, sondern man wählt aus. Das ist die Realität, auf die sich die Spitäler und die Politik einstellen müssen.»

Das andere, siehe oben: Öffentliche Spitäler stehen im Wettbewerb, untereinander und mit den Privaten. Kleinere Landspitäler erreichen die Fallzahlen und damit die Umsätze nicht, die sie zum Überleben bräuchten. Privatspitäler spezialisieren sich auf lukrative Gebiete, in der Ostschweiz und insbesondere im Appenzellerland auf die Orthopädie und die Augenmedizin. Ein «Rosinenpicken»? «Ja, aber der Gesetzgeber will Wettbewerb. Der Beste und Günstigste soll gewinnen. Für die öffentlich-rechtlichen Spitäler bleibt eine grosse Zahl von sehr unterschiedlichen Fällen, die weniger rentabel sind.»

Assistenzarzt R. sagt, wo die Musik spielt für die Spitäler

Der junge Arzt A.R. (Initialen geändert) ist um Beispiele nicht verlegen, um zu illustrieren, wie sich dieses politisch gewollte Gewinndenken im Spitalalltag auswirkt. R. ist in St.Gallen und Ausserrhoden aufgewachsen, arbeitet als Assistenzarzt an einem der beiden (notabene rentablen) Thurgauer Spitäler, Abteilung Innere Medizin, und sagt: «Im Studium ging es noch ausschliesslich um das medizinische Knowhow. Sobald du im Spital anfängst, wirst du aber darauf getrimmt, auch ökonomisch zu denken.» Ein Instrument dafür seien die Austrittsberichte von Patienten.

R. erklärt: Eine einfache Blinddarmoperation ist mit zum Beispiel 9000 Franken Fallkosten abgerechnet. Führt man im Austrittsbericht zusätzlich eine möglicherweise vorhandene Mangelernährung oder einen tiefen Natrium-Blutspiegelwert (Hyponatriämie) an, gilt die Operation als komplexer, auch wenn diese Nebendiagnosen für den Verlauf der aktuellen Operation keine Rolle gespielt haben – und kann vom Spital teurer verrechnet werden. Ein Screening dieser fast jährlich wechselnden, codierungsrelevanten «Modediagnosen» erfolgt daher in den meisten Spitälern routinemässig. Mit anderen Worten: «Bei den Austrittsberichten spielt die Musik für die Spitäler.»

«Im Studium ging es noch ausschliesslich um das medizinische Knowhow. Sobald du im Spital anfängst, wirst du aber darauf getrimmt, auch ökonomisch zu denken.»

A.R., Assistenzarzt

Ein weiteres Phänomen ist die sehr unterschiedliche Rentabilität der Eingriffe. Eine Leistenbruchoperation etwa sei in den letzten Jahren als Routineeingriff mit zwei geplanten Hospitalisationstagen eine durchaus rentable Operation gewesen, welche Spitäler gern gemacht haben und womit andere, kaum rentable Operationen querfinanziert werden konnten. Inzwischen gehört der Leistenbruch zu den Operationen, die als ambulant durchführbar eingestuft und somit mit einem deutlich kleineren Betrag vergütet werden. Lukrativ sind aber Hospitalisation und Zusatzleistungen, insbesondere bei Privatpatienten. Und lukrativ sind zum Beispiel Hüftoperationen – auf dem Gebiet der Orthopädie ist die Konkurrenz durch die Privatspitäler deshalb besonders hoch. Bei diesen nicht notfallmässigen, sondern Monate im Voraus geplanten Operationen gebe es einen Spielraum für den Entscheid, ob sie nach Abwägung von Risiko und erwartetem Gewinn an Lebensqualität durchgeführt werden sollen. Ärztinnen und Ärzte spielten in der Meinungsbildung der Patienten eine entscheidende Rolle und hätten dadurch einen starken Einfluss, wie häufig diese Eingriffe durchgeführt würden. Gewisse komplexere Eingriffe bedürfen ausserdem einer Mindestanzahl an jährlich durchgeführten Operationen, damit die Klinik diese auch weiterhin anbieten darf. Wo die geforderten Fallzahlen nur knapp erreicht würden, bestehe sicherlich ein Interesse, Patienten diese Eingriffe nahezulegen.

Anfang Januar kritisierte die SRF-Sendung «Puls» vergleichbare, finanzielle Fehlanreize am Beispiel der Angioplastie (der Einführung von Ballonkathetern oder Stents zur Erweiterung der Blutgefässe): Eine Herzkatheteruntersuchung ohne Stent bringt einem Schweizer Spital je nach Standort durchschnittlich rund 5000 Franken ein. Mit Stent sind es gut 10’000 Franken. Der Kardiologe Thomas Lüscher sagte in der Sendung: «Es besteht natürlich ein gewisser Druck, mehr zu operieren. Das ist systemimmanent und liesse sich nur politisch ändern, wenn die Verrechnung nach Qualität und nicht mehr nach Quantität erfolgen würde.»

Trotz dieser ökonomischen Faktoren relativiert Assistenzarzt R. aber: «Zuoberst steht im Spitalalltag die medizinische Notwendigkeit und das Wohl der Patientinnen und Patienten – erst danach kommen auch solche finanzplanerischen Aspekte ins Spiel. Dass man sich als Arzt jedoch nicht ausschliesslich ums Patientenwohl kümmern kann, sondern auch bezüglich Krankenkassenkosten und Geschäftszahlen der Spitäler unter Druck steht, empfinde ich als unangenehm.»

Big business mit Überkapazitäten

Im Eingriffssaal in Herisau sagt Gesundheitsdirektor Yves Noël Balmer: «Das Spitalwesen ist big business – aber der Markt ist zugleich stark reglementiert. Diese Mischform ist problematisch. Aber wir müssen damit leben.» Das bedinge eine Auslegeordnung: Welche Angebote machen wo Sinn? Wie kann die Grundversorgung gewährleistet werden? Wer spezialisiert sich auf was? Und wieviel darf das Ganze den Staat kosten? Denn, was viele Patientinnen und Patienten nicht wissen: Bei einem Spitalbesuch bezahlt nicht einfach die Krankenkasse alles, sondern den Löwenanteil mit 55 Prozent trägt der Kanton.

All diese Fragen können nach Balmers Überzeugung nur mit Blick auf die ganze Region beantwortet werden. «Es gibt Überkapazitäten und freie Betten, und es gibt zu viele Spitäler, die sich auf den gleichen Gebieten konkurrenzieren.» Inzwischen haben sich jedoch St.Gallen, beide Appenzell, Graubünden und Glarus im Grundsatz auf eine gemeinsame ostschweizerische Spitalplanung verständigt; auch mit dem Thurgau gibt es Gespräche. Balmer nennt die Kantone Waadt und Wallis als Vorbilder, die eine solche Gesamtanalyse unternommen, vier Spitäler geschlossen und ein neues gebaut haben. Die Ostschweiz müsse aufholen, aber trotz zeitlichem Druck genau hinschauen: Was braucht es wirklich?

Balmers Vision der Ostschweizer Spitallandschaft in 15 Jahren wäre ein Angebot, das möglichst deckungsgleich ist mit dem, was die Leute tatsächlich nutzen. «Ich habe den Auftrag, eine gute Versorgung zu sichern dort, wo sie die Ausserrhoder Bevölkerung auch in Anspruch nimmt. Viele gehen ausserkantonal ins Spital – das ist auch Ausdruck des Volkswillens.» Nicht nur Fehlanreize und der Zwang zur Rentabilität belasteten das Spitalwesen, sondern auch wir Bürgerinnen und Bürger mit unserer Doppelmoral: «Man klagt Jahr für Jahr über die hohen Krankenkassenprämien, man wünscht möglichst tiefe Steuern, aber will zugleich möglichst am eigenen Wohnort ein Spital haben. Und nutzt es dann vielleicht doch nicht, wenn man es selber nötig hat.»

Stimmt: Für «unseren Blinddarm» sind wir damals auch nach St.Gallen statt ins ähnlich nahe Heiden gefahren. Wie sagt Yves Noël Balmer? «Die nahegelegene Infrastruktur der Stadt St.Gallen ist für Ausserrhoden auf vielen Gebieten ein Segen – aber gleichzeitig der Fluch, dass wir Mühe haben, ein vergleichbar attraktives Angebot aufrecht zu erhalten.»

Die Vision des Kantonsspital-Direktors

Kantonsspital St.Gallen, Direktion: Die Büros sind momentan ausquartiert, der Baustelle wegen. Im Ersatzhaus 38 an der Notkerstrasse stellt Spitaldirektor Daniel Germann seine Diagnose so: «Problem Nummer 1 sind die Überkapazitäten in der Akutsomatik, vom Leistungsangebot und von der Bettenzahl her. Problem Nummer 2 ist die zu kleinräumige Struktur. Wir denken noch zu sehr in bestehenden Strukturen statt in Versorgungsräumen. Der dritte Fehler: Wir fokussieren sehr stark auf die Akutmedizin, während die Vor- und Nachsorge zu wenig stark gewichtet werden.»

«Es ist ein Fehler der aktuellen Gesetzgebung, dass sie zu sehr auf Volumen ausgerichtet ist und zu wenig auf Qualität.»

Daniel Germann, Direktor Kantonsspital St.Gallen

Den Einspruch, das Kantonsspital weise im Jahresbericht 2018 eine Rekordbelegung aus, von Überkapazität könne also kaum die Rede sein, kontert Germann. Die beiden mit St.Gallen verbundenen Spitäler Flawil und Rorschach etwa hätten eine Bettenbelegung von rund 75 bzw. 70 Prozent. Die Aufenthaltsdauer im Spital sei in der ganzen Schweiz hoch und über dem Schnitt anderer Länder, der Anteil ambulanter Behandlungen dagegen unterdurchschnittlich. Insofern sei es korrekt, von Überkapazitäten im stationären Bereich zu sprechen. Schwieriger sei die Frage, ob Spitäler zu viele unnötige Leistungen erbringen. Dafür bräuchte es eine Messung der Indikationsqualität, wie zum Beispiel in Grossbritannien. «Solange die Schweiz das nicht macht, bleibt es eine Behauptung, dass zu viel operiert wird.» Gerade hat in der NZZ allerdings die Fribourger Gesundheitsökonomin Annamaria Müller schweres Geschütz aufgefahren: Sie kritisiert die «explosionsartige» Zunahme einzelner Operationen, etwa von Luftröhrenschnitten in Bern. «Medizinisch gab es keinen Grund dafür. Wir fanden heraus, dass dieser Eingriff plötzlich um ein Vielfaches höher vergütet wurde.»

Minimalfallzahlen seien ökonomisch nötig, aber auch medizinisch, sagt Germann. Einerseits um genug Expertise zu haben, und andrerseits: Je weniger Fälle, desto weniger attraktiv ist ein Arbeitsort für gute Ärztinnen und Ärzte. «All das kann dazu führen, dass ein Spital die Indikationen so anpasst, dass man auf die Quote kommt. Es ist ein Fehler der aktuellen Gesetzgebung, dass sie zu sehr auf Volumen ausgerichtet ist und zu wenig auf Qualität.» Germanns Schlussfolgerung tönt provokativ: «Man muss das Angebot verknappen. Wer etwas besser machen will, muss Ressourcen wegnehmen statt hochfahren. Die bestmögliche Versorgung zu bieten und diese bezahlbar zu halten: Das ist unsere Aufgabe, und nicht, aus ökonomischen Gründen das maximale Volumen zu produzieren.»

Germanns Vision der Ostschweizer Spitallandschaft in 15 Jahren? «Die Ostschweiz, Graubünden und den Thurgau nicht eingerechnet, zählt drei öffentliche Akutspitäler und ein relativ dichtes Netz von Gesundheitszentren, die rein ambulante Gesundheitsleistungen anbieten.» Wo diese Spitäler und Zentren stehen, darauf müsse die Politik eine Antwort finden. Gemeinsam mit den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sei zu klären, was wo sinnvollerweise angeboten wird. Damit liegt er auf einer Linie mit Müller. Sie kritisiert, die heutige Medizin sei «eine klassische Reparaturversorgung»; gerade für die alternde Gesellschaft bräuchte es jedoch weniger Akut- und Spitzenmedizin, sondern eine gute Basisversorgung. Ihr Modell in Fribourg: ein Zentrumsspital und mehrere Gesundheitszentren.

Und die Privilegien der Privaten? Private hätten in der Regel einen höheren Anteil zusatzversicherter Patientinnen und Patienten. Damit werde die Gewinnspanne höher und sie könnten sich auf gut planbare Felder wie Orthopädie, Hämodialyse oder Augenmedizin konzentrieren. «Aber auch ein Privatspital, das auf der Spitalliste steht, hat einen kantonalen Leistungsauftrag.» Wie ist es dann einzuschätzen, dass ein privates Unternehmen wie die Westschweizer SMN-Gruppe behauptet, ein Spital wie Flawil kostendeckend betreiben zu können? Germann hat Zweifel – er kenne deren Zahlen nicht, aber auch ein Privater müsste wohl das Angebotsspektrum anpassen.

Und die Betreuungsqualität?

Flawil: Das ist die andere einschneidende Spitalerfahrung in unserer Familie: Die dortige Palliativabteilung haben wir gleich bei zwei nahen, schwerkranken Menschen als persönlich und fachlich vorbildlich erlebt – eine Oase der Sorgfalt und des würdigen Umgangs mit Patienten. Spitaldirektor Germann lobt Flawil ebenfalls; die heutige Zweiteilung der Palliativabteilung mit je zwölf Betten in St.Gallen und Flawil sei jedoch schwer zu finanzieren; eine Zusammenführung in St.Gallen habe Vorteile, denn auch Palliativmedizin sei Spitzenmedizin. «Es macht Sinn, diese Leistungen zu zentralisieren.» Gleichzeitig bleibe es eine grosse Aufgabe, nicht nur die medizinische, sondern auch die persönliche Betreuungsqualität und eine Atmosphäre der Ruhe und der Zuwendung zu schaffen – kein Leichtes auf einem riesigen Campus wie dem Kantonsspital. «Es kann sein, dass man in 30 Jahren wieder über Dezentralisierung statt Zentralisierung spricht», sagt Germann.

In den Büroräumen der St.Galler Spitaldirektion hängen Schrifttafeln des Künstlers Alex Hanimann. Eine lautet NIES SREDNA SELLA ETNNÖK SE. Entziffert: «Es könnte alles anders sein». Schlussfrage an den Klinikdirektor: Was könnte anders sein? Zum Beispiel dies, dass die Gesellschaft entscheidet: Wir haben ein ausgezeichnetes und dichtes Gesundheitswesen, das wollen wir uns leisten, und darum setzen wir mehr Steuergelder dafür ein? Germann ist «persönlich überzeugt, dass das falsch wäre. Wir haben ein super Gesundheitswesen, das stimmt, aber wir sind nicht gut darin, die Ressourcen am richtigen Ort einzusetzen. Wir müssen zuerst die Strukturen bereinigen.»

Allerdings sei fraglich, ob die Finanzierung so stimme, wie sie heute organisiert ist. «Die Prämien sind für die Bevölkerung eine sehr hohe Belastung.» Die Alternative hiesse: Sämtliche Rechnungen, ob stationär oder ambulant, laufen über die Krankenkasse, Sache des Staats sind dann substantielle Prämienverbilligungen. Das Modell wäre nach Daniel Germanns Überzeugung sozialer und weniger kompliziert.

Es könnte also durchaus «einiges anders sein».

 

Blinddarm und Baserate

Wie rechnet sich ein Blinddarm – zum Beispiel am Kantonsspital St.Gallen? Die Fallpauschale (Baserate) beträgt gemäss Auskunft der Finanzabteilung des Spitals für allgemein versicherte Patientinnen und Patienten 9’900 Franken. Der Ertrag für das Spital schwankt je nach Fallschwere (CW): einer Codierung, in die zahlreiche Parameter einbezogen werden, darunter der Eingriff selber, dieAufenthaltsdauer, Nebendiagnosen, Komplikationen etc. Aus diesen Faktoren resultiert ein Prozentsatz, in unserem Musterbeispiel 0,695 Prozent x die Fallpauschale, also ein Ertrag von 6‘880 Franken. Als Kosten fallen an:

Arztkosten: 1’370.–
Diagnose/Therapie: 1’940.–
Pflege: 1’090.–
Medikamente/Material: 1’660.–
Infrastruktur: 1’110.–

Der Basisfallpreis schwankt je nach Spitalkategorie; in den Landspitälern (ausgenommen Flawil und Rorschach, die zu St.Gallen gehören), ist er um einige hundert Franken tiefer als im Zentrumsspital. Die höchste Baserate können Universitätsspitäler verrechnen. Bei zusatzversicherten Patienten ist die Baserate entsprechend höher. Die Rechnung bezahlen der Wohnortkanton der Patientin zu 55 Prozent und die Krankenkasse zu 45 Prozent.

Für das Kantonsspital resultiert bei diesem Muster-Blinddarm ein Verlust von 290 Franken. Blinddarmoperationen sind vergleichsweise kostspielig, weil es sich um klassische Notfälle handelt – ein Spital muss dafür 24/7 Stunden einsatzfähig sein. Rentabler sind planbare Eingriffe, beispielsweise Leistenbrüche. Um Verluste und Gewinne auszugleichen, braucht ein Spital eine gewisse Grösse und genügend Fallzahlen. (Su.)

 

Dieser Beitrag erschien im Februarheft von Saiten.

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