Abrechnung mit dem Land der Unschuld
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«Es ist wirklich alles gesagt», erklärt Elfriede Jelinek in einem Interview zum Ende des Films. «Wenn ich mich jetzt äussere, dann schreibe ich.» Nach der Verleihung des Literaturnobelpreises 2004 hat sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Sie, die Nestbeschmutzerin, die Vaterlandsverräterin, die Staatsbeleidigerin und was ihr sonst noch alles nachgesagt wird.
Als Nestbeschmutzerin wurde sie schon 1985 bezeichnet, als sie in der bitterbösen Satire Burgtheater die nicht erfolgte Entnazifizierung Österreichs verarbeitete. Da habe sie wohl ihren guten Namen verloren, stellt Jelinek fest. Vielleicht habe sie das in gewisser Weise verbittert. Weitergemacht hat sie trotzdem. Und wie! Der Dokfilm Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen von Claudia Müller zeigt eindrücklich die Wortgewalt dieser zutiefst kompromisslosen und politischen Autorin.
Vor 2004 hatte Jelinek sich und ihr Schreiben bereits in etlichen Interviews erklärt. Claudia Müller versammelt diese in komprimierter Form – und so manche Reaktion darauf. Wie sie psychologisiert wird, pathologisiert wird, als «wütende Frau» abgetan, in einem Land, das sich mit ihren beissenden, oft überspitzten Beschreibungen seiner gesellschaftlichen und kapitalistischen Realitäten nicht abfinden mag. Jelinek bezeichnet dieses literarische Vorgehen als «Beugung der Wirklichkeit», als «scharfes Schlaglicht». Sie wollte immer «politische Inhalte mit neuen Formen der Ästhetik verbinden».
Ausgelieferte Zombies
Jelinek rechnet gnadenlos ab. Mit patriarchalen Machtverhältnissen und Pornografie, mit den Schicksalen, die die Männer «haben» und die Frauen nur «bekommen», mit der Nazivergangenheit ihres Geburtslandes, etwa mit dem bis heute nicht aufgearbeiteten Massaker von Rechnitz 1945, wo 200 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter ermordet wurden, mit der Fremdenfeindlichkeit, von der die Gesellschaft und die verquickten Medien sowieso durchdrungen sind, mit Kurt Waldheim, Jörg Haider und all den anderen rechten Cowboys. Der Film ist auch ein Portrait über Österreich selbst, das Land der «Schweigemauer», das Land des alpinen Kapitalismus und der besoffenen Verbrüderung, das Land der katholischen Korrektheit und der rechten Männer.
Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen: ab 3. Juni im Kinok St.Gallen
Jelinek sieht ihre Protagonist:innen als den Umständen ausgelieferte «Zombies» ohne Freiräume und Gestaltungsmacht. Das gilt für ihr literarisches Selbst ebenso wie für ihre überambitionierte, erdrückende Mutter, das bildungsbürgerliche «Raubtier» in den eigenen vier Wänden, dem sie zum Muttertag die ersten Lügengedichte schreibt, oder für die Bewohner:innen der Postkartensteiermark, die immer fetter und fetter werden. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit, besonders der leidvollen Kindheit, ist ein starkes Motiv in Jelineks Schaffen. «Ich habe das Gefühl, dass ich seit meiner Kindheit nichts mehr erlebt habe, das irgendwie von Bedeutung wäre», sagt sie einmal.
Cut-up-Sog vs. Orientierungspunkte
Claudia Müller verwebt geschickt historische Bilder, Interviewszenen und neue Aufnahmen, die das Archivmaterial unterstreichen oder kontrastieren. Die Hauptrolle in diesem Filmessay spielt aber definitiv die Sprache, Jelineks Überlegungen und ihre Texte, eingesprochen von Maren Kroymann, Stefanie Reinsperger, Sophie Rois und anderen. So ergibt sich mit der Zeit ein erstaunlich klares Bild einer Künstlerin, die gerne als Mysterium bezeichnet wird.
Müllers versponnene Montage der Filmszenen erinnert an die Cut-up-Technik von William S. Burroughs, Carl Weissner und anderer Autoren der Beat-Generation. Auch Jelinek hat sich in jungen Jahren von ihnen inspirieren lassen. Die Filmemacherin kreiert durch dieses assoziative Vorgehen einen prächtigen Sog. Was allerdings der Orientierung weniger dienlich ist. Ein paar Quellenangaben und Werktitel als Anhaltspunkte hätten dem Filmporträt gutgetan. Weil es so grosse Lust macht, wieder einmal Jelinek zu lesen und man gar nicht recht weiss, wo anfangen bei all diesen wortgewaltigen Ausschnitten.
Dieser Beitrag erschien im Juniheft von Saiten.