«Aber sorry, dort ist Krieg»
Der Dokumentarfilm «Volunteer» von Anna Thommen und Lorenz Nufer gewann am letztjährigen Zurich Film Festival den Publikumspreis. Er porträtiert sechs Schweizer Flüchtlingshelfer und erinnert an das Elend an Europas Aussengrenzen – das aktuell immer schlimmer wird. Wegen Corona wurde der Start verschoben, jetzt läuft der Film in den Kinos.
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Die Bilder sind unvergesslich: überfüllte Flüchtlingslager auf griechischen Inseln, verzweifelte Menschen, die zu Hunderten gegen einen Grenzzaun anrennen und die dafür verprügelt und mit Tränengas eingedeckt werden. Genau vier Jahre zuvor waren solche Szenen schon einmal während Wochen auf allen Kanälen Alltag: in Idomeni an der Grenze zwischen Griechenland und Nordmazedonien. «Zurück aus Idomeni» war der Arbeitstitel des Dokumentarfilms von Lorenz Nufer und Anna Thommen (Neuland), und der Ort, der im Frühjahr 2016 traurige Berühmtheit erlangte, steht nun als zweiter Zwischentitel in dem in drei gleich lange Kapitel unterteilten Film; als «Lesbos» und «Schweiz» sind das erste und das dritte Kapitel betitelt.
Volunteer ist ein Film von einer bewusst rohen Machart, er scheut sich nicht, mit ganz unterschiedlichem Bildmaterial zu arbeiten: verwackelte Handyaufnahmen, Ausschnitte aus TV-Dokumentationen, Archivbilder des Hilfswerks Schwizerchrüz (dem im Film eine wichtige Rolle zukommt), professionelle Aufnahmen mit den Rückkehrern aus Idomeni und Lesbos. Der Kontrast zwischen «Hier» und «Dort» wird so noch deutlicher sichtbar.
Propere Kulissen
Was das «Hier» betrifft, so sieht man eine geradezu absurd idyllische Schweiz mit einem Einfamilienhaus mit Bootanlegeplatz am Luganersee, einem Bauerhof im Simmental mit prächtiger Bergkulisse, ein properes Häuschen in einem Vorort von Bern, eine 1.August-Feier in Münsingen. Es ist vielleicht die grösste Leistung von Volunteer, dass das Regieduo Menschen aus der Schweiz ins Zentrum stellt, die genau dieser scheinbar heilen Welt entstammen.
Volunteer: ab jetzt im Kino.
Zwar ist unter den sechs Porträtierten mit der Tessiner Grossrätin Lisa Bosia eine Flüchtlingshelferin mit von der Partie, die nicht aus dieser heilen Hüslischweiz stammt. Man erinnert sich, es war die SP-Politikerin, die im Sommer 2016, als hunderte von Gestrandeten aus aller Welt wochenlang in einem Park vor dem Bahnhof Como campierten, einige dieser armen Teufel zu sich Hause nahm und dafür von einem Gericht verurteilt wurde. Aber Lisa Bosia ist unter den Volunteers eher die Ausnahme.
Viel typischer ist Michael Räber, seines Zeichens Hauptmann der Schweizer Armee und Inhaber einer Logistikfirma. Der gemütlich wirkende Mittvierziger aus der Berner Provinz war 2015 mit seiner Frau Rahel in Griechenland in den Ferien, kam dort per Zufall und aus nächster Nähe mit dem Elend der Geflüchteten in Berührung. Von da an fand er, dass er persönlich etwas dagegen unternehmen müsse. Wenig später reiste er nach Lesbos und war dort einer der ersten, der Soforthilfe leistete für die in jenem Herbst täglich zu hunderten, bisweilen zu tausenden Ankommenden.
«Jeder Politiker in Europa weiss haargenau, was hier passiert. Und man schaut einfach zu – das ist Fahrlässigkeit, reine Fahrlässigkeit», sagt er an einer Stelle – und Volunteer beginnt kommentarlos mit einem atemlosen Lauf von Helfern an einem Strand, die versuchen, Insassen eines Schlauchbootes rechtzeitig in Empfang zu nehmen.
Hilfe mit dem «Schwizerchrüz»
«Man hat es einfach geschafft, diese Szenen so weit von Europa wegzudrücken, dass es nicht mehr so sichtbar ist.» Der das sagt, ist weder ein linker Politiker noch ein Menschenrechtsaktivist, sondern Thomas Hirschi, Bauer und Metzger aus dem Simmental. Er kam durch seine Freundin, die Tierärztin Sarah Gerber, in diese ihm völlig fremde Welt. Und die Sorge um Sarah, die ihrerseits eine enge Freundin von Rahel Räber, Michael Räbers Ehefrau, ist, war anfänglich sein Motiv, dass er sich von ihr zu einer ersten Reise zu einem Hilfseinsatz nach Griechenland überreden liess.
Später im Film erzählt Hirschi freimütig, er sei früher einer gewesen, der fand, «die» sollten doch dort bleiben. «Aber sorry, dort ist Krieg», habe ihn Sarah dann nach und nach aber überzeugt. «Wenn man es nicht gesehen hat, kann man es nicht nachvollziehen», ist später sein Fazit.
Aidhoc engagiert sich in Griechenland für die Flüchtlinge. Mehr zum Projekt: hier.
Infos: aidhoc.org
Spenden: IBAN CH30 8000 5000 0546 4499 1
Oder es gibt Michael Grossenbacher, einen Showmaster und Komiker aus Bern, der auf die Hilfsorganisation Schwizerchrüz, die Michael Räber zusammen mit seiner Frau Rahel 2016 gründete, aufmerksam wurde und sich dort zu engagieren begann. Räbers kompromissloses «Ich sehe es, also gehe ich helfen» habe ihn so beeindruckt, dass er sich bei ihm meldete und bald darauf mit einem Lastwagen voller Kleider nach Lesbos reiste.
Fast zur gleichen Zeit sieht man ihn als Moderator auf einer Bühne am Eidgenössischen Schwingfest 2016 in Estavayer. Und Räber hält zum 1. August eine Rede – über die Situation der Geflüchteten und wie er sie selber erlebt hat. Diese Welle der Solidarität und Hilfsbereitschaft scheint lange her, aber es gibt Menschen wie die Tierärztin Sarah, die am Ende von Volunteer über ihre Motivation sagt: «Man hat doch eigentlich das Grundbedürfnis, dass es allen gut gehen soll, das innere Kind gibt es doch in uns allen, denn Kinder sind es, die dieses Gerechtigkeitsbedürfnis noch haben.»
Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.