A wie Drill und Z wie Freiheit
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Ins Rechnen versunkene, hoch konzentrierte Kinder: Was hier an der Mathematik-Olympiade im chinesischen Sichuan passiert, sei eine Tragödie, eine Erziehungsmethode komplett gegen die Natur des Kindes, sagt der Schulkritiker Yang Dongping. Das prüfungsfanatische Schulsystem seines Landes sei ein Desaster für Jugendliche: «Sie gewinnen am Start und verlieren im Ziel.»
Die Prüfungsmaschinerie mache Chinas Kinder weltweit zu den Schülern mit dem stärksten Druck und dem geringsten Glücksgefühl. Davon erzählt auch das Gesicht von Qu Pei, dem die Kamera zu den militaristisch organisierten Klausuren und nach Hause folgt. Die Mutter gibt unerbittlich das Ziel vor: «Gewinn noch ein paar Medaillen mehr!»
«Ich konnte immer tun, was ich wollte.»
Die Gegengeschichte spielt in Frankreich, in der Familie des Malpädagogen Arno Stern: Dessen Sohn André ist komplett ohne Schule aufgewachsen – heute sehen wir ihn in seiner Gitarren-Manufaktur mit Leidenschaft am Arbeiten und hören ihn schwärmen über die glückliche Jugend, die er verbracht habe: «Ich konnte immer tun, was ich wollte.» Seine Tochter spielt währenddessen im blühenden Garten der Grosseltern zwischen den Blumenbeeten.
Der Film «Alphabet» zeigt: Drill nach chinesischer Art ist böse, Freiheit auf Stern-Manier ist gut. In den Extremen hat er damit natürlich recht. Bloss macht es sich Filmemacher Erwin Wagenhofer allzu einfach. Das beginnt bei der Wahl der Gesprächspartner: Gerald Hüther, Vortragsreisender in Sachen Hirnforschung und neue Pädagogik, wiederholt seit Jahren auf allen Kanälen die Einsicht, dass der «abgerichtete Mensch» keine Zukunft habe. Und dass die Schule jene Einrichtung sei, «wo man Dinge tut, die man überhaupt nicht braucht».
Arno Stern, der unermüdliche Mal-Anreger und Kinderfreund, propagiert das Spiel als die einzige «richtige» Lernform. Alles «Beigebrachte» ist ihm zuwider; unsere Schulen seien einzig darauf angelegt, die Menschen unzufrieden, unfrei und damit zu kaufwilligen Konsumenten zu machen. Irritierend ist dann allerdings, dass Stern beim Durchblättern von Zeichnungen, die in seinem Atelier entstanden sind, seinerseits dogmatisch wirkt und nur die nach seiner Meinung «freien» Bilder gelten lässt.
Polemische Zuspitzung als Markenzeichen
Plakativ prangert auch die Schülerin Yakamoz Karakurt den gymnasialen Leistungsdruck an. Thomas Sattelberger, Personalvorstand bei der deutschen Telekomm, beklagt die vielen unentdeckten Begabungsreserven in den Unternehmen. Schliesslich, als Stimme aus dem Off, gibt der Amerikaner Sir Ken Robinson das Motto des Films vor: 98 Prozent der Kinder kämen hochbegabt zur Welt – nach der Schulzeit seien es bloss noch 2 Prozent.
Das Drama des seiner Begabung beraubten Kindes: Damit setzt der österreichische Regisseur seine gesellschaftskritische Reihe fort, nach Filmen gegen den Nahrungsmittel-Irrsinn («We Feed the World») und über die Finanzwelt («Let’s Make Money»). Die polemische Zuspitzung ist sein Markenzeichen – in «Alphabet» findet sie ihren Höhepunkt in den Szenen aus einem Jungmanager-Seminar, wo auswechselbare Krawattenträger herangezüchtet werden.
Fehlende Zwischentöne
Der Komplexität des Themas Bildung kommt er damit jedoch nicht bei. So berechtigt die Kritik an Auswüchsen sein mag, so wenig berücksichtigt sie die Entwicklungen, welche Privat- ebenso wie Staatsschulen in den letzten Jahren zumindest bei uns gemacht haben. Von freien Schulen bis zum Lehrplan 21 geht es heute um differenzierten Unterricht, um individuelle Lernziele, Begabten- und Spezialförderung, um Orientierung an den Ressourcen der Kinder. Solche schulischen Zwischentöne interessieren Wagenhofer nicht.
Damit bleibt die Lern-Realität ausgeblendet, wie sie für die grosse Mehrheit der Kinder und Jugendlichen bei uns und anderswo auf dieser Welt gilt. Wagenhofers «Alphabet» kennt nur A und Z – die Buchstaben dazwischen fehlen. Anregungen zur Bildungsdebatte bietet der Film aber trotzdem.
In der Ostschweiz im Kino: Cinewil Wil: 5., 10., 18. und 25. März; Rosental Heiden 15./25. März; Kino Madlen Heerbrugg 5. März; TaKino Schaan 3./4. März; Loge Winterthur 3.-5. März