A und O des Hörens
Singen sei ungesund. Allzu aerosolhaltig. Aber allein zu singen kann einem niemand nehmen. Allein heisst zwar einstimmig – aber deshalb noch lange nicht eintönig.
In unserem Chörli singen wir unter anderem gregorianischen Choral, jene gebetsartigen Melodien, die die Mönche und Nonnen in den Klöstern singen, lebenslänglich und mehrmals täglich, manchmal bei Kälte, immer auf harten Kirchenbänken, seit dem Mittelalter bis heute. Tausend Jahre Haltbarkeit, daran muss also etwas sein, etwas Überzeugendes, etwas Wohltuendes. Das Gesundheitselixier des Singens, zumindest ein wesentlicher Teil seiner Rezeptur, sind die Vokale.
Zum Beispiel «Alleluja»: In dem Wort stecken, mit Ausnahme des «O», alle Vokale drin. Singt man es langsam, so öffnet sich der Mundraum quasi den Vokalen entlang, vom glasklaren A über das lebendige E, vom dunklen U-Grund hinauf in den I-Himmel und retour zum A, das neben dem O das A und O des Klangs und Gesangs ist. Und mit dem Mund macht der ganze Körper mit, vom Bauch zur Brust, hinunter ins Becken und hoch in den Kopf.
Oder das kirchenslawische «Gospodi pomiluj» mit seinen vielen «O» und «I»: Es wird in der orthodoxen Liturgie unzählige Male wiederholt, bis alle Körperzellen und auch der allerfernste Gott es gehört haben.
Die unterschiedlichen Frequenzen, die der Mundraum erzeugt, entsprechen der Obertonreihe. In einem «Alleluja» gehen Quint, Oktav, Quart, Terz und so weiter auf, bis zum «diabolischen» Tritonus, dem ominösen elften Ton der Obertonreihe, und weiter bis ins nicht mehr Hörbare.
Anfänglich klingen für uns moderne Ohren die Choral-Melodien alle ähnlich, man glaubt, sie nie unterscheiden zu können, aber taucht man ein, und das heisst vor allem: repetiert man sie immer und immer wieder, dann wird aus kleinen Intervallen ein Ereignis und aus einem Vokal ein Universum.
Kann man ausprobieren, allein oder zu zweit, nicht nur weil dies virologisch unbedenklich ist, sondern deshalb, weil man sich allein am besten selber hört. Das Hören ist nicht umsonst der älteste Sinn des Menschen und das Ohr das «wichtigste Organ der Menschwerdung», wie der Hörforscher Alfred A. Tomatis es genannt hat. Das Ohr ist das eigentliche Empathie-Organ, das Organ der Aufmerksamkeit, der Zuwendung, des Miteinander.
Ein anderer Hör-Spezialist, Jazzpublizist Joachim-Ernst Behrendt, hat diesen Sinn das «dritte Ohr» genannt und sich nichts weniger als die Lösung diverser Menschheitsprobleme davon erhofft, dass wir uns mehr ans Hören und weniger ans Sehen und Reden halten.
Wenn man der Pandemie (A – E – I übrigens, auch eine schöne Vokalmelodie) etwas Positives abgewinnen will, dann also vielleicht dies: Die Maske stopft uns den Mund, damit wir den andern (und uns) besser zuhören.
Peter Surber, 1957, ist Saitenredaktor.
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