28 Stunden Lust und Qual mit Satie
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Das in St.Güllen beheimatete Institut de ‚Pataphysique appliquée sucht Mitwirkende, um eines der wohl speziellsten, ziemlich sicher aber das längste je geschriebene Stück Musik kooperativ aufzuführen. Dem normannischen Komponisten Alfred Éric Leslie Satie, der sich lieber skandinavisch «Erik» nannte, weil dies «allgewaltig» bedeutet, sagt man nach, er hätte sich selbst viel zu ernst genommen, um sich wirklich ernst zu nehmen. Das ist bei einem solchen Werk schon mal eine sehr wichtige Information: Man ist sich bis heute uneins, ob es sich bei seinem Stück Vexations (Quälereien) nun um einen üblen musikalischen Jux, um ein sadistisches Experiment oder eine vordadaistische kompositorische Revolution handeln soll – wobei bestimmt alles ein bisschen zutrifft.
Die Partitur besteht nur aus einem Blatt, doch stellt Satie den Noten einige klare Anweisungen voran: Erstens ist das Stück «très lent» zu spielen, zweitens 840 (achthundertvierzig!) Mal zu wiederholen. Leute, die seine Vexations aufgeführt haben, unterscheiden seither ihre persönliche Zeit in vor und nach der Performance. Man sagt sich gar, es habe schon Halluzinationen ausgelöst; zwischen Klaviertasten hervorkriechende Käfer hätten mitten in einem Konzert eine Rochade am Piano erzwungen. Ohne Mutmassungen kann jedenfalls gesagt werden, dass das Stück etwas mit einem macht. Ob dies eher rosenkranzhaftes Mantra oder radikale Konzeptkunst sein soll, ist zweitrangig. Nach allem, was man über den Komponisten Satie weiss, hat er garantiert an beides gedacht.
Erik Satie schrieb neben einigen skandalbehafteten Ballettstücken unter anderem auch Hintergrundmusik, die er «Möbelmusik» zu nennen pflegte, da sie sich wie ein Möbelstück in die Umgebung einpassen sollte. Nimmt er damit Warenhausmusik und andere inzwischen omnipräsente Jingles vorweg, so kann man doch sagen: Vexations ist ein ziemlich «schönes Sofa». Das kann man testen: Man schalte im Büro einfach das Internetradio der Redaktorin von nebenan auf lautlos. Die wiederholende Entleerung dieser Quälerei in Endlosschleife ist so gar nicht unangenehm im Hintergrund. Was man von 98 Prozent der zeitgenössischen Popmusik nun wirklich nicht behaupten kann.
Wo sind die Wahnsinnigen Montmartres?
Stattfinden wird die Aktion nicht wie eigentlich angedacht im konzeptuell perfekt passenden St.Galler Variété Tivoli, das laut Stimmen aus den Reihen des Institut de ‚Pataphysique appliquée schlicht zur Unzeit für immer die Türen schloss, sondern im Palace, das noch am ehesten an die einstige Wirkstätte des Barpianisten Le Chat Noir in Montmartre erinnert. Beginnend am 16. Mai um 20 Uhr wird Vexations in voller Länge aufgeführt – schliesslich hatten John Cage und seine 20 Mitpianisten bei der 18 Stunden und 40 Minuten dauernden Uraufführung 1963 in New York um einiges zu schnell gespielt: «très lent», Viertel = 26 und das Ganze mal 840 ergibt ungefähr 28 Stunden. Somit werden an Saties 150. Geburtstag, dem 17. Mai, den ganzen Tag lang die Teufelsintervalle seiner Quälerei erklingen.
Das muss man sich mal geben: Als in Zürich anno 1916 Dada begründet wurde, war Erik Satie bereits 50 Jahre alt, mit diversen, gewissermassen dadaesken Skandalen im Rücken. Ein anderer Zeitgenosse Saties – obwohl nicht gesichert ist, dass sich die zwei wirklich in Paris begegnet sind – ist der ähnlich wahnsinnige Schriftsteller Alfred Jarry. Daher kommt auch die Motivation des I’PA für dieses Projekt: Ein Künstler, der sich selbst ernst nimmt, indem er sich nicht ernst nimmt, ist genaugenommen nichts anderes als ein ‚Pataphysiker – das bestätigt auch Tanja Lorandi vom italienischen Collage de Pataphysique.
Das I’PA gedenkt, die Provinz als Zeitkapsel zu benutzen. Schliesslich sei es ganz normal, dass gewisse Revolutionen 100 Jahre brauchen, um in St.Güllen anzukommen. Gewisse Gegebenheiten aus Saties Paris fänden sich hier noch im Originalzustand. So ist es durchaus denkbar, dass die «Wahnsinnigen Montmartres» zu Ehren Saties das Palace in ein skurriles Kabarett verwandeln, um in einer Art Zeitlosigkeit die Revolution Saties wiederaufleben zu lassen. Ob das dann sadomasochistische Lustproduktion, katholisches Exercitium oder musikalische Selbsttherapie heissen mag; ‚pataphysisch wirds, ohne Frage.
Nicht nur Pianisten sind gefragt
Der Aufruf des I’PA richtet sich nicht nur an Klavierspielende, denkbar sind alle Instrumente, die dazu geeignet sind, Saties Linie zu verfolgen. Darüber und daneben sind Interventionen aller Art denkbar. Kleingedrucktes ist auf vexations.ch zu finden, Interessierte melden sich bei vexations@gmx.ch.
Verbleibt noch die Anweisung des Komponisten: «Pour se jouer 840 fois de suite ce motif, il sera bon de se préparer au préalable, et dans le plus grand silence, par des immobilités sérieuses».
Dieser Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.