18 Prozent: «Das ist ein Skandal!»

Tag der Arbeit in St.Gallen 2018: Mehr Leute als auch schon, ein kleiner Block, Rojava und natürlich die alte neue Parole – «Lohngleichheit. Punkt. Schluss!»
Von  Corinne Riedener
Grosse Demo für Longleichheit und gegen Diskriminierung: 22. September, Bern. (Bilder und Videos: co/rh)

Alle Jahre wieder feiern wir auch in St.Gallen den internationalen Tag der Arbeit. Die Kundgebung hat hier meistens eher was von einem gut besuchten Familienfest als von einer währschaften Demonstration. Umso erfreulicher, dass gestern seit Jahren wieder mal ein kleiner Block mitgelaufen ist, darunter auch junge Leute aus Winti und dem Thurgau. Alles ist friedlich geblieben, wie immer. Verglichen mit Zürich sehen die St.Galler Polizisten ja auch aus wie gelangweiltes Aufsichtspersonal auf einem Pausenplatz.

 

Nach dem Umzug vom St.Leonhardspark via Multergasse und Burggraben zur Marktgasse, traditionell begleitet von der Banda di San Gallo, hat man sich in aller Ruhe ein Bier oder einen Kebab aus der Festwirtschaft gegönnt, die Banda nochmal beklatscht, diverse Hände geschüttelt, Kinder angezogen, small getalked, Transpis bewundert, Parolen ausgetauscht, Unterschriften gesammelt.

Um 18 Uhr betrat Barbara Gysi das Podium. Die SP-Nationalrätin und Präsidentin des kantonalen Gewerkschaftsbundes erinnerte an den Generalstreik von 1918, verwies auf die bisherigen Errungenschaften im Kampf für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter und gab die alten neuen, schweizweiten Parolen für morgen durch: «Lohngleichheit. Punkt. Schluss!», «internationale Solidarität» und «Lohndumping bekämpfen».

Von links: Frey Fässler, Claudia Friedl, Giorgio Tuti, Barbara Gysi und Peter Hartmann.

Die erste Ansprache hielt Giorgio Tuti aus Solothurn, Präsident der Eisenbahnerinnen- und Eisenbahnergewerkschaft SEV. Auch er kritisierte die Lohndiskriminierung der Frauen. «Es ist nicht normal, dass wir nach über 30 Jahren Gleichstellungsartikel in der Bundesverfassung und über 20 Jahren Lohngleichheit im Gleichstellungsgesetz eine Situation haben, wo die Frauen immer noch 18 Prozent weniger Lohn bekommen als die Männer, davon 7,4 Prozent aufgrund von Diskriminierung», monierte er. «Das macht durchschnittlich 600 Franken im Monat aus – und das ist ein Skandal!»

Zum Schluss nahm er die SBB ins Visier: Deren Führung habe sich die neoliberalen Prinzipien schon gut zu eigen gemacht. Sie baue mit ihrem Sparprogramm «Railfit 20/30» derzeit 1400 Stellen ab und wolle auch beim Gesamtarbeitsvertrag auf Kosten des Personals sparen. Bei den laufenden Verhandlungen reichten ihre Forderungen von Lohnabbau über die Verschlechterung von Zulagen, Ferien, Treueprämie und bei der Arbeitszeit bis hin zur Schwächung des Kündigungsschutzes.

SP-Nationalrätin Claudia Friedl ging in ihrer Ansprache ebenfalls auf den «unerklärbaren» Lohnunterschied von sechs bis acht Prozent ein: «Es geht nicht um besseres Können, um bessere Ausbildung. Es geht um nichts, es geht nur ums Geschlecht, und diese Diskriminierung lassen wir nicht länger zu.» Der Bundesrat habe zwar mittlerweile eingelenkt und strebe mittels Lohntransparenz ein «Mini-Reförmchen» des Gleichstellungsgesetzes an, doch diese Vorlage sei von der «männlichen, bürgerlichen Dominanz im Ständerat» zurückgeschickt worden. «Was sind das für weltfremde Politiker, die bis jetzt noch nicht gemerkt haben, was da abgeht?», fragte sie rhetorisch.

Lohngleichheit alleine genüge aber nicht, so Friedl weiter. «Wir wollen auch eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Ländervergleiche haben gezeigt, dass die Schweiz auf Platz 26 von 29 – nur die Türkei ist noch schlechter als wir! Das ist eine Blamage für ein so reiches Land wie die Schweiz.» Friedl forderte darum günstigere Krippenplätze, Möglichkeiten zur Teilzeitarbeit für Frauen und Männer auf allen Hierarchiestufen, Vaterschaftsurlaub, Weiterbildungsmöglichkeiten auch für Teilzeitangestellte und natürlich Lohngleichheit.

Ali Haydar Sancar von der Föderation demokratischer Arbeitervereine (DIDF) informierte die über 500 Anwesenden nicht wie von Gysi angekündigt über die Situation in der Türkei, sondern holte zum antikapitalistischen Rundumschlag aus. Der globale Kampf gegen die imperialistischen Mächte sei auch 2018 nicht vorbei, sagte er.

Die Leidtragenden dabei seien die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auch in der Schweiz. «Firmen und Monopolisten wie ABB, Glencore, Novartis und Syngenta haben unter dem Schlagwort Rationalisierung hunderte Angestellte vor die Tür gesetzt. Während die Wirtschaft floriert, die Umsätze steigen und die Manager und Firmen satte Gewinne einstreichen, sinkt der Lohn der Arbeiter – oder sie verlieren ihre Beschäftigung ganz. Ihre Rechte wurden in den vergangenen Jahren systematisch ausgehöhlt.»

Gerade deswegen steige auch der Widerstand in Europa, erklärte Sancar. «Verglichen mit den 80er-Jahren ist die Zahl von Protestveranstaltungen und Streiks um das 25-Fache gestiegen. Zwischen 1995 und 2016 fanden im Durchschnitt sechs Streiks pro Jahr statt. Zwischen 2000 und 2016 beteiligten sich etwa 140’000 Arbeiterinnen und Arbeiter an Protestveranstaltungen.»

 

Als vierte und letzte Rednerin stand Dicle Ahmed aus Chur von der kurdisch-syrischen Gruppe auf der Bühne, noch etwas ausser Atem, da sie erst kurz vorher in St.Gallen angekommen war. «Der erste Mai steht dafür, die lokalen Kämpfe gegen Unterdrückung und Ausbeutung auf einer globalen Ebene zu vernetzen und die real existierenden, künstlich geschaffenen nationalen Grenzen, aber auch die in unseren Köpfen bestehenden Spaltungslinien ein für allemal einzureissen», erklärte sie.

Das demokratische, ökologische und auf Frauenbefreiung basierende Gesellschaftsprojekt der kurdischen Freiheitsbewegung, das in Rojava praktisch umgesetzt werde, sei in den letzten Jahren zu einem Kristallisationspunkt der weltweiten Solidarität geworden. Dies mache ein gemeinsames, freies Leben aller Völker und Religionsgemeinschaften möglich. «Rojava ist darum nicht nur für die Völker des mittleren Ostens wichtig, sondern für Menschen weltweit zur Hoffnung geworden», sagte Ahmed und verwies auf die vielen Aktivistinnen und Aktivisten aus Europa und anderen Regionen der Welt, die in den vergangenen Jahren nach Rojava gereist sind, um Teil der Revolution zu werden.

Ahmed verurteilte zudem das Schweigen der internationalen Gemeinschaft beim Angriff auf Afrin vor wenigen Wochen. «Die Türkei verübte, ausgestattet mit Panzern aus Deutschland, ein Massaker an der Zivilbevölkerung, während der Rest der sogenannten internationalen Staatengemeinschaft tatenlos diesem völkerrechtswidrigen Besatzungskrieg zusah – und es immer noch tut. Denn die Türkei rückt seit mehreren Wochen auch in Südkurdistan bzw. Nordirak militärisch vor und bedrängt die Zivilbevölkerung.» Dieser Krieg der Türkei werde unter anderem auch vom Tourismus finanziert, sagte Ahmed zum Schluss und rief zum Boykott desselben auf.