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Die Bilder zum Essay stammen vom afghanischen Fotografen Hashem Shakeri. In seiner Arbeit möchte er darauf aufmerksam machen, wie die Frauen in Afghanistan seit der Machtübernahme der Taliban wieder zunehmend aus dem Bild der Öffentlichkeit verschwinden. (Bilder: Hashem Shakeri)
Es ist sechs Uhr morgens, ich sitze auf dem Balkon meiner Wohnung und betrachte den Sonnenaufgang. Ich atme die kühle Luft der Freiheit langsam, aber tief ein. Was für ein angenehmes Gefühl! Langsam öffne ich meine Augen. Die Sonne geht auf und ich geniesse diese spektakuläre Szene. Wie sehr ich diese Szene doch geniesse.
Ich schlage die ersten Seiten meines Buches auf. Ich blättere weiter zur nächsten Seite und dann immer weiter. Alle paar Sekunden trinke ich einen Schluck aus meiner Tasse Kaffee und geniesse jedes einzelne Schlückchen. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, wird mein Geist freier und gelassener. Die milde Herbstbrise streichelt meine Wangen und wirbelt sanft mein langes, offenes Haar durcheinander. Vielleicht versuchen das Buch, der Kaffee, der Sonnenaufgang und der kühle Wind, meine trübe Stimmung zu vertreiben.
Die Ursache für meinen gebrochenen Gefühlszustand ist mein geschundenes Herz. Die Wunde schmerzt seit drei Jahren und vier Monaten in jedem einzelnen meiner Körperteile.
Ich schliesse meine Augen und stelle mir die letzten drei Jahre vor, in denen ich mit meinen Lieben zusammengelebt hatte.
Ich erinnere mich genau an die Sorgen und Bedenken, die ich vor der Ankunft der Taliban hatte. Eine ferne Stimme flüsterte mir leise und sanft ins Ohr: Dies ist das Ende der Reise, das Ende des Lebens, und mit jedem Schritt kommt der Tod näher auf uns zu. Nicht als ein Tod, der uns den Atem raubt, sondern als ein Tod, der uns die Freiheit entzieht und unser Leben in Trümmern zurücklässt. Vielleicht waren diese verzweifelten Stimmen die gleichen wie die der zahlreichen Nachrichten darüber, dass die Taliban die Kontrolle über die Städte um Kabul gewonnen hatten.
Ich erinnere mich noch genau an den grauenvollen Tag, als mein Kabul in die Hände der rücksichtslosesten Typen der Welt geriet. Meine Stadt, Kabul, wurde zu einer Stadt des Schreckens.
Es war nicht nur der 15. August 2021, der den Untergang Afghanistans einleitete, sondern auch jener Tag, an dem die Lebensträume sämtlicher junger Mädchen und Frauen zerstört wurden. Der Tag, an dem das Leben für die Frauen meines Heimatlandes unmöglich gemacht wurde, an dem die Pforten der Schulen und Universitäten geschlossen wurden. Die Schönheit der Frauen wurde unter einem Schleier versteckt, und ihre Füsse wurden in Ketten gelegt. Deshalb packte ich meine Koffer und machte mich auf den Weg, voller schöner, unerfüllter Träume. Unterwegs habe ich diese Träume manchmal aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit aufgegeben, und manchmal habe ich sie wieder aufgegriffen und weiterverfolgt. Manchmal stockte mir der Atem, und manchmal strömte er wieder. Wie sehr wünschte ich mir, dass unsere Träume in unserem Heimatland in Erfüllung gehen würden! Wie gerne hätten wir auf den Universitäten meines Heimatlandes den Studienabschluss gefeiert!
Diese Reisen bestehen nicht aus Leidenschaft, sie sind Migration, sie sind Vertreibung. Es sind die Schmerzen der Heimatlosigkeit. Sie bedeuten Leiden und Qualen ... Wir werden vertrieben, unsere Ländereien werden an mächtige Machthaber übergeben, unsere Häuser werden von der Regierung besetzt. Wir werden vertrieben, und unser Eigentum wird von anderen (den Taliban) zerstört und verwüstet.
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Aber als ich dann in ein neues Land, nämlich die Schweiz, kam, war das alles ziemlich schwierig für mich, für ein 25-jähriges Mädchen, dessen Leben wie das eines Neugeborenen bei null anfangen sollte. Ich verliess meine Familie, meine Eltern, die warme Umarmung meiner Familie und die liebenden Hände meiner Mutter fernab in meinem trostlosen Heimatland und begann mein neues Leben.
Dies ist die Welt für die Neuankömmlinge. Die Stadt ist ruhig und sorglos.
Ein anderes Land, eine andere Stadt, eine andere Kultur, andere Menschen und eine andere Sprache. Das alles zusammen kennenzulernen, bedeutete für mich, einen neuen Weg zu beschreiten, den ich vorher noch nicht gegangen war.
Aber dieser Weg macht mir viel Freude, denn ich kann meine Freiheit auskosten und mein Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Aber es erfordert Mut, durchzuhalten und nicht aufzugeben, mit jedem Misserfolg mehr Kraft zu schöpfen und wieder weiterzumachen.
Ich liebe diesen Ort hier, weil ich hier zum ersten Mal ich selbst sein darf.
In diesem fremden Land fühle ich mich geborgen. Ich bin glücklich, dass ich allein durch die Stadt spazieren kann, ohne einen langen blauen Schleier zu tragen. Hier darf ich meinen schönen Körper mit bunten Kleidern bedecken und mit wehendem Haar herumlaufen. Niemand kann mich daran hindern, laut zu lachen und herumzualbern, und selbst wenn das Gefühl der Einsamkeit und der Sehnsucht mein Herz quält, kann ich laut weinen oder sogar nachts im Nieselregen durch die Gassen schlendern.
Hier gibt es niemanden, der sich an der rhythmischen Bewegung meines offenen Haares stört. Selbst wenn ich allein auf der Strasse bin, belästigen mich die Männer nicht mit schmutzigen Blicken.
Es gibt Tage, an denen ich roten Lippenstift auftrage und meine Augen schminke, und selbst wenn ich meine Lieblingskleidung trage, nennt mich kein Mann eine Schlampe.
Mein Geschmack wird respektiert und ich werde als ein vollwertiges Gesellschaftsmitglied angesehen.
Dieses fremde Land ist zu meinem Zufluchtsort geworden. Dieses Land hat mir einen Lebensraum in einem seiner Stadtteile zur Verfügung gestellt, ein Land, das mich als Frau anerkennt, das meine Existenz in der Gesellschaft als wichtig und meine Handlungen als etwas Positives betrachtet.
Doch wie gross ist der Unterschied, denn in meinem Heimatland betrachtete man mich als schwach, sah meine Abwesenheit als Segen und hielt meine Intelligenz für schwach und wertlos.
Dort wurde ich ab meinem sechsten Lebensjahr gelehrt, meine Kindheit mit der schlechten Laune meines Vaters, meine Jugend mit der Strenge meines Bruders und mein Leben als junge Frau unter der Herrschaft meines Mannes auszufüllen.
Man hat mir beigebracht, dass Männer immer etwas Besseres sind als ich.
Als Frau bin ich mit diesen Worten seit meiner Kindheit aufgewachsen.
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Wenn ich ehrlich bin, hat sich niemand um mich gekümmert und niemand hat mich je geliebt, denn ich war ein Mädchen mit grossen Träumen von Freiheit, aber ich lebte in einer patriarchalen Gesellschaft, die versuchte, mir meine Träume zu rauben und mich wie viele andere Mädchen in die Ecke zu drängen. Aber ich akzeptierte keine Niederlage und kämpfte mit Freude für meine Träume, und das war der Hauptgrund, warum andere dachten, ich sei die schlechteste aller Töchter in meiner Familie.
Nun ja, manchmal habe ich neben den Alltagssorgen auch noch Heimweh. Ich vermisse mein Heimatland Afghanistan, die schöne Stadt Kabul und sogar das Haus meines Vaters, wo mir alles so lieb und vertraut ist. Ich vermisse meine Mutter und ihre mütterlichen Liebkosungen, die Zeit, in der meine Mutter meinen Kopf streichelte, sogar mein Zimmerfenster, an dem ich gesessen habe und über die Schwierigkeiten des Lebens zu schreiben pflegte.
Ich vermisse die Strassen von Kabul. Ich erinnere mich gerne an Kabul, aber mit einem weinenden Auge, denn die erschütternden Ereignisse, die ich in der Vergangenheit erlebt habe, erscheinen vor mir. Ich erinnere mich an den Tag, an dem Fereshteh und Somayeh vor meinen Augen bei einem Selbstmordattentat in Stücke gerissen wurden und an dem ich das Blut meiner Freunde auf den Strassen von Kabul zurückgelassen habe.
Manchmal höre ich die Klagen jener Mütter, die ihre Töchter im Teenageralter bei der Explosion des Kaj-Instituts verloren haben.
Die Szene der Märtyrer des Mawood-Instituts erscheint immer noch wie gestern vor mir. Die Sayed-e-Shuhada-Schule, die Universität Kabul ...
Ich habe Fereshteh, Shukrieh, Marzieh, Negineh und hunderte von unschuldigen Mädchen und Märtyrern des Bildungspfads auf den Friedhöfen von Kabul zurückgelassen.
Wie kann man eine Stadt vergessen, die vom Blut vieler Student:innen gezeichnet ist?
Auch wenn meine Seele sich glücklich schätzt, ist mein Herz doch schwer verwundet.
Eine Wunde, die unmöglich zu heilen ist. Ich hoffe, diese Wunde heilt niemals, damit ich nicht vergesse, was mit den Mädchen und Frauen in meinem Land passiert.
Ich wünsche mir, dass dieser Alptraum ein Ende hat, dass die Mädchen wieder mit Begeisterung zur Schule gehen können, dass die Universitäten wieder aufmachen, dass die Frauen arbeiten gehen und dass mein Land wieder aufblüht.
Und das ist der einzige Wunsch, den meine Mitstreiter:innen und ich haben.
Sohaila Alizada, 1997, lebt in St.Gallen. Sie ist im Bezirk Jaghori in der Provinz Ghazni aufgewachsen. 2016 zog sie nach Kabul, um dort die Universität zu besuchen. Sie wollte Journalismus studieren, konnte diesen Wunsch jedoch aufgrund von Gefahren und familiären Einschränkungen nicht verwirklichen. Stattdessen begann sie ein Studium in der Computerabteilung an einem von den USA unterstützten Institut. Gleichzeitig studierte sie Pharmazie und schrieb immer wieder persönliche Texte für Magazine und Zeitungen in Kabul. Als die Taliban 2021 wieder die Macht übernahmen, floh sie zuerst nach Pakistan, wo sie darauf wartete, im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz zu ihrem Verlobten einzureisen. Im Moment lernt sie Deutsch und sucht nach einer passenden Ausbildung, da ihr Studium hier nicht anerkannt wird.
Der Originaltext in Farsi wurde vom Verein ARGE Integration Ostschweiz ins Deutsche übersetzt.
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