, 13. September 2019
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Terroranschläge als Kopfkino

Psychologisch stark, aber politisch unbedarft: So wirken «Die Anschläge von nächster Woche», vom Theater St.Gallen als Schweizer Erstaufführung zum Auftakt der Spielzeit in der Lokremise gespielt. Premiere war am Donnerstag.

Die Fäden in der Hand? Finsterling Tartini (Christian Hettkamp), vorne Oliver Losehand und Anja Tobler. (Bilder: Iko Freese)

«Sie vergeht einem, die Sicherheit», sagt die Stimme, die wir zu Beginn ab dem im Hintergrund laufenden Revox-Tonband hören. Die Sicherheit vergeht dann tatsächlich mehr und mehr im Verlauf des Stücks. Vor allem für Armin Stummer, den Lichttechniker, der unversehens in den Verdacht gerät, an den Terroranschlägen von Paris, Brüssel, Nizza, Berlin und all den anderen Städten beteiligt gewesen sein. Weil er – zufällig? – stets dann mit Tartini, dem Magier, auf Tournee dort gastierte.

Verstrickt in das Angstsystem

Oliver Losehand spielt den Stummer mit schmerzender Intensität: als kleinen Fisch im Haifischteich der Mächtigen, im Klammergriff des dämonischen Tartini (Christian Hettkamp in bester Mephisto-Persiflage) und des zwielichtigen Michailov (Marcus Schäfer schillernd zwischen kalter Brutalität und Charme).

Dabei beginnt es so gut: Mit seiner Eva (Anna Blumer) ist er auf dem Weg zum Kleinbürgeridyll, und beruflich nimmt ihn, den «Unterhund» endlich mal jemand ernst und füttert sein Selbstwertgefühl – um ihn dann umso brutaler in ein Spiel zu verstricken, das er nicht durchschaut und aus dem er nur als Verlierer hervorgehen kann.

Hettkamp, Losehand, Schäfer, Tobler (von links): Das Netz zieht sich zu.

Je unausweichlicher Stummer in die Sackgasse gerät, umso unsicherer wird man sich aber auch als Zuschauer: Wo will das Stück hin, was ist seine Stossrichtung? Soll tatsächlich ein Einzelner, verführt von irgendwelchen Finsterlingen, für all die terroristischen Greuel der letzten Jahre verantwortlich sein? Oder alles nur Kopfkino?

Nächste Vorstellungen:
15., 19. und 26. September, Lokremise St.Gallen

theatersg.ch

Kino zumindest ist das zentrale Stilelement für Regisseur Matthias Rippert und sein Team (Bühne Fabian Liszt, Kostüme Johanna Lakner, Musik Robert Pawliczek). Was vorne an der Bar «live» geschieht, geht nahtlos in Szenen im Off über, in Grossaufnahmen auf die Sonnenstoren projiziert, die den Spielort klaustrophobisch abschirmen. Die Kamera, abwechselnd (und meisterlich) von den Schauspielern selber im Nebenraum geführt, zoomt Köpfe, Blicke, Handschuhe gefährlich nah heran. Die Geräusche sind heftig, einmal glaubt man eine unerträgliche Ewigkeit lang Stummers Schädel splittern zu hören. Theater als Hörfilm.

Schwarzweiss und schmutziges Grün prägen die Film-noir-Atmosphäre. Kommissarin Göttinger, von Anja Tobler schneidend gespielt, trägt Hut und ermittelt mit schummrigen Fotos. Das schwarze Wandtelefon schellt nostalgisch, es wird geraucht, was das Zeug hält. Nächstens wird Humphrey Bogart um die Ecke biegen.

Der reale Terror als Staffage

Die 50er-Jahr-Ästhetik passt zum kriminalistisch raffinierten Plot, aber ist ein kruder Anachronismus zum Terror der jüngsten Zeit. In dem Mass, wie sich das Netz der Angst zuschnürt, wie Tartini seine schmierigen Fäden auslegt und sich auch Eva unvermeidlich hineinverstrickt, werden die Anschläge individualisiert und damit entpolitisiert. Bataclan, Promenade des Anglais, Charlie Hebdo, Maelbeek, Saint-Denis, Breitscheidplatz – die Orte des Grauens der Jahre 2015 und 2016 sind nur Staffage für ein psychologisch ausgefeiltes Kammerdrama.

Der österreichische Autor Thomas Arzt, Jahrgang 1983, weiss viel über Angst und deren schleichende Produktion und Giftwirkung. Aber die Bombe, von der Kommissarin Göttinger überzeugt ist, dass sie nächstens losgeht samt dem ominösen Koffer, den Stummer mit sich trägt, explodiert nicht. Und die faschistoiden Parolen, die Michailov ins Mikro spricht, verhallen rasch.

Dafür verwandelt sich «Mephisto» Christian Hettkamp am Schluss in den Polizeichef, warum auch immer. Ein fröhliches Happy New Year entlässt das Publikum ins Freie, nun nicht mehr durch den Notausgang wie beim Eintritt, sondern durch die Nebenbühne – und eher ratlos, was für Anschläge man hier gerade überlebt hat.

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