, 24. April 2017
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«Stille Raserei gegen den rasenden Stillstand»

Vergangene Woche feierte die Hauspublikation des Point Jaune Museum im St.Galler Linsebühl die erste vierstellige Nummer. Saiten hatte fünf etwas andere Fragen an den Blattmacher des tausendwöchigen «Wochenblatts».

Frisch ab Presse: das Wochenblatt N° 998 am Trocknen.

In der Alten Post im Linsebühl werden seit Mitte der 90er-Jahre Schaltergeschäfte der eher künstlerischen Art getätigt. Im Point Jaune Museum wird seit 1998 mittwochabends ein «Wochenblatt» gestaltet. Vor drei Wochen erschien die handgesetzte N° 998, zur tausendsten Woche «Wochenblatt» feierte dieses Vernissage und die N° 1000 wurde kollaborativ gestaltet.

Grund genug, dem Herausgeber des «Wochenblatts», Martin Amstutz, ein paar Fragen zu stellen. Wie es sich für den Postpostismus anbietet, wurden diese schriftlich beantwortet. Und wie es sich für die ‘Pataphysik gehört, wurde damit die Welt erklärt: Merdre.

Saiten: Mit einer würdigen Fete wurde letzten Mittwoch das Entstehen der tausendsten Nummer des allmittwochabendlich produzierten Wochenblatts begleitet. Eine wahnsinnige Zahl, nächstes Jahr wird das Wochenblatt unglaubliche 20 Jahre alt. Daher eine erste Frage, in Gedanken z.B. die massgebenden Performances des Konzeptkünstlers Tehching Hsieh, der unter anderem die lebensfernen Spektakel-Ebenen des Kunstmarkts kritisiert, herbeiziehend: Ist das Wochenblatt eigentlich eine konzeptuelle Performance, welche insbesondere Zeit thematisiert, z.B. als «Phantasie im Laderaum», wie sie Fred Moten und Stefano Harney beschreiben?

Martin Amstutz: Klar dient das «Wochenblatt» dem Postpostismus nicht nur als experimentelles Medium, sondern auch als Vehikel zur Erforschung der Zeit und der damit verbundenen Selbsvergewisserung. «I kept myself alive» (Hsieh) ist ein Gedanke, der sich jeden Mittwoch und erst recht jeden Aschermittwoch aufdrängt.

Es wäre eine Freude, wenn das, was Moten und Harney «Haptikalität» nennen, in diesen Blättern zu finden wäre. Sicher kann das Wochenblatt aber als das betrachtet werden, was die beiden Autoren in den Undercommons ein Kapitel weiter vorne als «Plan» umschreiben.

Im Auge des gentrifizierenden Sturms: Ist die Alte Post Milieu, oder ist das schon Kreativindustrie? Anders gedreht, ist der Postpostismus der Postpost insbesondere als Kritik an der Stadtplanung zu verstehen, die solche gemeinsamen Räume, die ausserhalb des Etiketts von Quartiervereinen fungieren, gar nicht zur Kenntnis nimmt?

Der Museumsbegriff, wie er im Point Jaune gepflegt wird – das altgriechische μουσεῖον als Ort der Musen, epikureische Zugänge inklusive – deutet darauf hin, dass die Alte Post Linsebühl mit der dort betriebenen Forschung, dem Austausch, aber auch mit der gepflegten Geselligkeit eher Milieu ist. In der angeschlossenen funktionellen Offizin entstehen jedoch auch Akzidenzen und Plakate. Gelegentlich fliesst dabei Kreativität ein, das industrielle Ausmass hält sich derweil in Grenzen.

Stadtentwicklung ist ein Thema, dessen situationistische Implikationen schon im Café Zerem, einem Vorläuferprojekt der Postpost, prägend waren und das selbstverständlich auch im Rahmen des Postpostismus beobachtet und diskutiert wird. Ob eine Stadtplanung jenseits kapitalistischer Verwertungslogik in St.Gallen derzeit überhaupt existiere, ist dabei eine wiederkehrende Frage. Von einer derartigen Stadtplanung ignoriert zu werden, kann für gemeinsame Räume im Übrigen durchaus eine Chance sein.

Der Satz der aktuellen Nummer.

Die vielbesungene Krise der Printmedien: Das handgesetzte «Wochenblatt» hält sich an keine Normen und ist gegenüber solcher Krisen eine Antithese. Was kann der Postpostismus zur Zukunft der Medien sagen? Wird es vermehrt um antizyklisches Rebellieren gehen oder um Arbeit im Sinne des glücklichen Sisyphos, den Du auch schon als «ersten Rock’n’Roller» bezeichnet hast?

Die Einzelstücke des «Wochenblattes» bewegen sich tatsächlich etwas abseits der Konvention. Bei den gedruckten Ausgaben ist es hingegen von Vorteil, die Normhöhe von 23.56 mm einzuhalten. Letztere Originalgrafiken erfreuen sich langsam aber stetig wachsender Beliebtheit und waren schon verschiedentlich an Gruppen- und Einzelausstellungen im In- und Ausland zu sehen. «Letterpress», wie es auf Englisch heisst, verbindet weltweit, ob es nun um das Vergesellschaften von Arbeits- und Kommunikationsmitteln geht oder um kleinbürgerliches Gewerbe. Dass der nur zum Teil von Nostalgie getragene Trend zur Haptik des Handgedruckten, der seit den 90er-Jahren anhält, früher oder später selbst St.Gallen erreichen wird, kommt dem entgegen.

Und ja: Handsatz und -druck ist stille Raserei gegen den rasenden Stillstand – gleichzeitig RocknRoll und Sisyphosarbeit. Beides macht glücklich.

Figuren wie Trump oder Blocher sind äusserst schlecht inszenierte Plagiate von Alfred Jarrys König Ubu. Es kann durchaus gesagt werden: Leser*innen des «Wochenblatts» wunderten sich nicht über deren Erfolg, konnten über den pataphysischen Gehalt solcher Absurditäten lachen und wissen als Spezialist*innen imaginärer Lösungen sogar die Antwort auf die Frage, wie es weiter gehen kann. Was ermöglicht z.B. der fünfte Buchstabe in «Merdre» hinsichtlich der schwierigen Gegenwartsbewältigung?

Hätte die Pataphysik ein Rezept zur Rettung der Welt anzubieten, würde Asger Jorns Vorwurf, sie sei eine entstehende Religion, zutreffen. Dem ist nicht so. Dass Macht immer absurd ist, wissen ja nicht nur Leser*innen des Wochenblattes, erschreckend sind Aufstiege von Diktaturen aber allemal. Mit der Figur des Ubu hat Alfred Jarry ein Bild geschaffen, das bis heute die sich allenthalben zeigenden autoritären Tendenzen der Lächerlichkeit preiszugeben vermag. Wo das Gelächter die Angst überwindet, entsteht Raum für imaginäre Lösungen.

Obwohl sich die Wissenschaft des Instituts für Angewandte Pataphysik (IPA) eher an Dr. Faustroll als an Ubu orientiert, ermöglicht der zusätzliche Buchstabe Kommunikation mit anderen pataphysischen Einrichtungen von Sovere über London und Paris bis Ubuenos Aires. Und in den Setzkästen des Point Jaune lagert noch manch ein zusätzliches r.

Welches waren die Höhepunkte in 1000 Wochen «Wochenblatt»? Und abschliessend: Da das «Wochenblatt» schon lange, bevor das Internet herausfand, dass Katzen cool sind, nach der grünen Katze sucht, wo wurde sie gesichtet und welches sind ihre spezifischen Eigenschaften?

Während der Sonderkorrespondent Naranath Bhranthan in jedem Mittwoch einen absoluten Höhepunkt erkennt, vertritt die Mitarbeiterin Mme Kaemo die Meinung, dieser stehe mit Erscheinen der N° 1001 unmittelbar bevor.

Eine Katze mit gewissen Tendenzen zum Grün wurde zuletzt im Haus der Sinne in Berlin gesichtet, wo das Café Deseado auf dem Weg nach Gransee gastierte. Eine grüne Jadekatze klopfte jüngst an die Tür der Postpost, dem Absender sei an dieser Stelle gedankt.

Das Wochenblatt kann abonniert werden bei der Postpost und wird derzeit ausgestellt in der Eremitage Gransee.

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