, 31. Mai 2023
keine Kommentare

Schön war das Märchen…

Mit einer funkelnden Revue verabschiedet das Theater St.Gallen Schauspieldirektor Jonas Knecht: Seine Nachfolgerin Barbara-David Brüesch inszeniert eine musikalische Schiffahrt «Zwischen den Welten» voll Seemannsgarn und Abschiedsseligkeit für den scheidenden Käptn.

Käptn Jonas Knecht geht von Bord. (Bilder: Jos Schmid)

Gerade noch war Untergang angesagt, ein letzter wilder Tanz vor dem Crash mit dem Eisberg, alles liegt wie erschlagen auf Deck, doch dann geht am Horizont die Sonne auf mit Udo Jürgens, und Schlagerfreunde wissen: «Dunkelheit für immer gibt es nicht». Strahlend tritt der Käptn vor das Publikum, Schauspieldirektor Jonas Knecht in seiner zumindest vorläufig letzten Rolle, und reicht uns zum Abschied die Hände: «Schön war das Märchen, nun ist es zu Ende.»

Es reimt und trällert sich leicht an diesem Abend, der letzten Produktion der Ära Knecht. Wie Milch und Honig fliessen die Melodien von den Lippen, ein Hit reiht sich an den andern, für alles ist gesorgt an Bord der MS «Zwischen den Welten» auf ihrer letzten Fahrt. Chef-Stewardess Birgit Bücker hat das Publikum und die Passagiere stets im Griff, auch wenn die musikalischen und zwischenmenschlichen Wellen hoch gehen.

Auf dem Sonnendeck mit Band: Graupner, Tobler, Pfeuti (oberes Bild), Hettkamp, Blumer, Tobler, Dengler, Schäfer, Flury, Stocker, Langenegger (unteres Bild, von links).

Auf dem Traumschiff geht es beinah wie im richtigen Leben zu und her. Das französische Paar (Anja Tobler und Tobias Graupner) keift über die Decks und macht sich den Urlaub zur Hölle. Die Alte am Rollator (Tabea Buser) angelt den verklemmten Grossdichter (Julius Schröder), Sherlock Holmes (Marcus Schäfer) observiert versteckt hinter der Zeitung das Geschehen.

Siegbert und Ralf (Fabian Müller und Christian Hettkamp) ziehen ihre Show ab («It’s magic, really!»), es gibt Piratinnen (Diana Dengler), einsame Damen (Pascale Pfeuti) und blendend geschultes Personal inklusive Service-Roboter (Anna Blumer, Stefan Späti, Maren Watermann).

Hoher Seegang: Graupner, Schröder, Pfeuti (oben), Tobler, Buser, Späti, Blumer.

Mittendrin: die fantastische Bordkapelle. Bandleader Michael Flury und seinen Matrosen Lukas Langenegger (Gitarre) und Nicolas Stocker (Perkussion) fällt zu jeder Lebenslage zwischen Backbord und Steuerbord der passende Song ein. Das Ensemble singt sich mit Inbrunst und Können durch das einschlägige Repertoire auf hoher See.

Seemannsträume und Hummerballett

Kaum etwas anderes hat von Kunst bis Kitsch so viele musikalische Wellen geworfen wie Reisesehnsucht und Abschiedsschmerz: ob aufm Sonnendeck mit Peter Licht oder mit Frank Sinatras easy sad music morgens at quarter to three an der Bar, ob Sentimentalitäten mit Freddy Quinn und Heino, ob Charles Aznavour, Marlene Dietrich oder Friedrich Hollaenders Kleptomanin, ob Schildkrötentanz, Herzscheisse und andere Blödeleien von Funny van Dannen.

Ein groteskes Hummerballett darf im schlagerselig schaukelnden Showprogramm ebensowenig fehlen wie Morgengymnastik fürs  Publikum, eine To-to-tombola mit Sambaschwung, ein feministisches Intermezzo von Grosstadtgeflüster und natürlich: der grosse Auftritt der Schauspieler. Fast wie bei Hamlet, nur grotesker: Schäfer und Dengler liefern zu Heinz Erhardts Sketch Alles mit G eine urkomische Parodie auf die Schauspielerei ab.

Theaterzauberei: Fabian Müller, Christian Hettkamp.

Julius Schröder und das Hummerballett.

Damian Hitz (Bühne) und Sabine Blickenstorfer (Kostüme) machen mit Vintage-Charme die Lokremise zum nostalgischen Platz an der Sonne, samt Bar, Sonnendeck, Drehbühne, Ausguck, Lounge und Bullaugen, hinter denen sich das Sehnsuchtsblau ausbreitet und alle Sorgen weit weg sind. Regisseurin Barbara-David Brüesch, ab nächster Spielzeit Chefin des Schauspiels, holt die schon vielfach erprobten musikalischen Talente aus dem fast vollständig versammelten Schauspielensemble heraus (nur Dramaturgin Anja Horst musste wegen einem Knochenbruch kurz vor der Premiere an Land bleiben).

Wer wird denn weinen?

Anspielungen auf Reise und Abschied sind allgegenwärtig – Assoziationen an St.Gallen hingegen, an die siebenjährige Theaterära Knecht oder an den real existierenden, in den letzten Jahren an einigen kulturpolitischen Eisbergen vorbeigeschrammten Dampfer namens Theater St.Gallen fehlen vollständig. Mit Marlene Dietrich geschmettert: Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht?

Vorstellungen: 31. Mai, 1., 6., 7., 8., 12., 19. Juni, Lokremise St.Gallen

theatersg.ch

Für Momente wird die Stimmung zwar schwarzhumorig, so mit Georg Kreislers Couplet Das Beste. Was der Wiener Kabarettist (beziehungsweise Marcus Schäfer an der Bar) dort grantelt – «Ich glaube kaum, dass irgendwas gescheh’n kann / Was schon geschah, war auch nicht sehr genau» – lässt sich aber auch nicht im Ernst auf die Lage des hiesigen Theaters beziehen, eher schon auf die unerquickliche Weltlage. Doch auch die bleibt an diesem Abend in sicherer Distanz.

Mit ihrer augenzwinkernden Revue sagen der scheidende Schauspieldirektor und seine Nachfolgerin heiter und in bestem Einvernehmen «Servus» und «Willkommen an Bord».

Chef-Stewardess Birgit Bücker.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit 30 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!