Saiten im Sommer: En Guete.
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Quinoa ist im Trend. Jahrhundertelang wurde die nährstoffreiche Kulturpflanze vorwiegend in den bolivianischen Anden gegessen, ihrem traditionellen Anbaugebiet. Mittlerweile ist der reisähnliche «Super Food» buchstäblich in aller Munde: Vor zehn Jahren wurden weltweit etwa 60’000 Tonnen Quinoa produziert, heute geht man von über 250’000 Tonnen aus. Boliviens Bauern profitieren jedoch nicht vom Hype. Weil das Saatgut verändert wurde, damit der vegetabile Verkaufsschlager auch in anderen Regionen und industriell angebaut werden kann, etwa in Peru, den USA, Indien oder China – was natürlich zu einem massiven Preiseinbruch geführt hat. Die bolivianischen Bauern können mit dieser neuen globalen Konkurrenz nicht mithalten, ausser sie verfügen über riesige Anbauflächen, Monokulturen, welche wiederum die Böden auslaugen. Tschau Ökosystem.
An diesem Beispiel (und weiteren im Heft) lässt sich erahnen, wie komplex das Thema Ernährung ist, wie viele Aspekte es dabei zu bedenken gibt: globale bzw. regionale, wirtschaftliche, soziale, ökologische, gesundheitliche und mutmasslich noch weitere, von denen wir bisher nichts wissen. Sicher ist, auch am Essen zeigt sich das globale Ungleichgewicht: Da die gesundheitsbewussten Quinoa-Hipster, dort die bolivianischen Pleite-Bauern. Einerseits #Foodporn, Fitness und Followerpower, andererseits Hunger, Hilfspakete und Habenichtse. Oder auf die Schweiz und Europa heruntergebrochen: Auf der einen Seite das wohlständige Ideal von Max-Havelaar-Limetten und Ferien auf dem Bio-Bauernhof, auf der anderen all jene, die kaum Billag zahlen können und ihren Aufschnitt darum günstig ennet der Grenze holen.
Das alles mag zugespitzt formuliert sein, ist im Kern aber wahr – und für Saiten mehr als Grund genug, sich mit dem Essen und den damit verbundenen Fragen zu beschäftigen. Traurige Erkenntnis: Das (im weiteren Sinn) «faire Fressen» gibt es nicht, solange man nicht alles selber jagt, anbaut und verarbeitet. Warum das so ist, erklären Silva Lieberherr in ihrem Beitrag über den Basler Agrochemie-Multi Syngenta und Bettina Dyttrich, die in ihrem Text einen Blick auf verschiedene Formen der Landwirtschaft wirft.
Für manche ist Essen ein Lifestyle («Lueg, ich mach Avocado-Burger!»), für andere eine Ideologie («Ich küss sicher kai Fleischfresser!»). Selten geht es um den blossen Akt der Nahrungsaufnahme, heute nährt eine Mahlzeit nur allzu oft auch den Zwang zur Selbstvermarktung und -optimierung. Mehr zu diesem Wandel von Frédéric Zwicker und Maja Dörig, dazu Francisco Sierras altmeisterliche Fleischbilder. Und eine schöne Erkenntnis: Die Ostschweiz ist gar nicht so rückständig wie sie gern tut. Auch hier findet man allerhand kulinarische Projekte, innovative Leute und vorausschauende Initiativen – einiges davon haben wir in einem «Panorama des guten Geschmacks» zusammengetragen.
Ausserdem im Heft: Der ausufernde Saiten-Kulturführer mit sommerlich heissen Tipps aus der Region, Post aus Johannesburg und zwei grosse Interviews: Stefan Schmid zum «Tagblatt»-Umbau und Nino Cozzio zum Zustand der CVP und unserer Stadt.
Übrigens: Allein in der Schweiz werden pro Jahr rund zwei Millionen Tonnen einwandfreie Lebensmittel weggeworfen. Das sind pro Kopf 117 Kilogramm.
En Guete.
Corinne Riedener
Der Inhalt:
Reaktionen/Positionen
Blickwinkel
von huber.huber
Stimmrecht von Gülistan Aslan
Redeplatz mit Kerem Adigüzel
Herr Sutter sorgt sich … von Bernhard Thöny
Evil Dad von Marcel Müller
En Guete.
Super-Food-Porn
Essen ist zum öffentlichen Akt geworden.
von Maja Dörig
Anima insana in Corpore supersano
Heute isst man politische Statements oder für den Körperkult.
von Frédéric Zwicker
Es darf auch mehr sein!
Ein Lob der (gepflegten) Völlerei.
von Ueli Vogt
Das Panorama des guten Geschmacks
Projekte, Leute und Orte in der Ostschweiz.
Syngenta, Besitz und Hunger
Wie man sich grosse Gewinne auf Kosten der Kleinbauern, Landarbeiterinnen und der Natur sichert.
von Silva Lieberherr
Nicht den Robotern überlassen
Die Industrialisierung der Landwirtschaft ist verhängnisvoll.
von Bettina Dyttrich
Gesellschaftliche Kampfzone
Nahrungspolitik: An den Börsen und an der Urne.
von Peter Surber
Die Bilder zum Titelthema stammen von Francisco Sierra.
Perspektiven
Quo vadis CVP?
Stadtrat Nino Cozzio im Interview.
von Corinne Riedener
Medien und Kolonialismus
Der neue Bildband zu Walter Mittelholzer.
von Stefan Keller
Quo vadis «Tagblatt»?
Chefredaktor Stefan Schmid über die Zweibundzeitung.
von Peter Surber
Flaschenpost aus Johannesburg
von Georg Gatsas
Kultursommer 2017
Ausgewähltes aus Musik, Kunst, Literatur, Kino, Theater & Co. mit Beiträgen aus Arbon, Appenzell, Balzers, Bregenz, Dornbirn, Eggersriet, Feldkirch, Hohenems, Konstanz, Lustenau, dem Rheintal, Schaffhausen, St.Peterszell, St.Gallen und Winterthur.
Den Sommerführer hat Hannah Raschle illustriert.
Sommergedicht: The Heat is On
von Florian Vetsch
Mixologie
von Niklaus Reichle und Philipp Grob
Am Schalter im Sommer:
Jung, weiblich und in der Politik
Abgesang
Kehl buchstabiert die Ostschweiz
Kellers Geschichten
Kreuzweiseworte
Pfahlbauer
Boulevard