Saibene und ein Fisch in Bern

Greift der FC St.Gallen das Spitzenduo an? In Bern wissen sie, wie es nicht geht.

Von  Andreas Kneubühler

Die aktuelle Tabelle der Super League sieht bekanntlich so aus:

Champions-League-Platz: 57 Punkte

FC St.Gallen: 56 Punkte

Muss einen das kümmern?

In den letzten Runden zeichnete sich ein Muster ab: Wenn der FC St.Gallen die Gelegenheit gehabt hätte, nach einer GC-Niederlage den Abstand auf das Spitzenduo zu verringern, lieferte die Mannschaft eine durchzogene Leistung ab. Wie gegen Luzern.

Ging es hingegen darum, sich gegen die Verfolger abzusetzen, zeigten die Spieler eine starke Reaktion. Wie gegen Sion.

Es sieht so aus, als wollte der FC St.Gallen den dritten Platz um jeden Platz halten – aber auch nicht vorrücken. Dass die Mannschaft nun trotzdem bis auf einen Punkt an den Tabellenzweiten herangerückt ist, kann man damit erklären, dass die Grasshoppers am Wochenende nach St.Gallen spielten.

Die Theorie sieht so aus: Dem Aufsteiger fehlt das Selbstverständnis, um die Spitzenplätze ernsthaft anzugreifen – einmalige Chance hin oder her. Letztlich ist es eine Nervensache.

Trainer Jeff Saibene ist anderer Meinung. Er sagt: «Wir müssen stets am Limit spielen um bestehen zu können. In Luzern haben wir verloren, weil wir zu wenig präsent waren. Es gab zu viele Gelegenheiten, in denen wir den Ball nicht eroberten, obwohl wir eine Überzahlsituation schaffen konnten.»

Übrigens hat Saibene am Rande der Pressekonferenz nach dem Sion-Match angekündigt, dass er seinen Vertrag, der noch bis 2014 läuft, gerne vorzeitig verlängern würde. Es klang, als wäre dies nur noch eine Formalität.

Doch zurück zum Selbstverständnis, beispielsweise ein Meisterkandidat zu sein. Man sagt, dies sei eine der entscheidenden Voraussetzungen, damit ein solches Ziel überhaupt erreicht werden kann. Und es sei das Verdienst von Marcel Koller gewesen (Serienmeister mit GC), dies dem FC St.Gallen in der Saison 1999/2000 eingeimpft zu haben.

Ein Klub, dem dieses ominöse Selbstverständnis meistens eher fehlt, ist der BSC Young Boys. Als die Berner 2010 nach der Winterpause mit sieben Punkten Vorsprung auf den FC Basel auf dem ersten Platz lagen, engagierten sie deshalb einen Sportpsychologen, der sie auf die ungewohnte Rolle vorbereiten sollte. Wie in dieser Branche üblich, arbeitete der Experte mit Bildern. Zu sehen ist die Szene im Dokumentarfilm «Meisterträume» von Norbert Wiedmer und Enrique Ros. Die Filmemacher erhielten damals freien Zugang zu allen Besprechungen und Trainings. Etwas, was es im Schweizer Fussball wohl nie wieder geben wird.

Der Sportpsychologe sitzt am Tisch. Er deutet auf das Bild eines Fisches (Typ (Speisefisch) und fragt die Spieler, was ihnen dazu einfällt. Einer scherzt: «Er stinkt». Das will der Sportpsychologe nicht hören. Aber natürlich sind alle Beiträge willkommen. Er sagt: «Ein zweiter Gedanke der wichtig ist: Fische jagen – oder werden gejagt.» – Man spürt förmlich, wie Schultern gezuckt und Stirnen gerunzelt werden. Doch die Kamera bleibt beim Psychologen. Der fährt fort: «Wollen wir lieber jagen, oder wollen wir uns der Situation stellen, dass wir gejagt werden?» – Spielte die Szene in einem Comic, sähe man nun eine Gruppe von Leuten mit lauter Fragzeichen in der Gedankenblase.

Nach diesem Ausschnitt wird es niemanden verwundern, dass die Young Boys den Vorsprung letztlich nicht halten konnten und der FC Basel am letzten Spieltag Meister wurde. In Bern.

Von Fischen weiss man nämlich vor allem eines: Sie werden gefangen.