, 5. März 2024
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Mach dein Ding!

Jugendtheater kann hart sein. Und poetisch. Und politisch. Von allem bietet das Festival Jungspund, das zum vierten Mal in der Lokremise St.Gallen stattfindet. Am Startwochenende hatten unter anderem Figurentheater und Theater St.Gallen ein Heimspiel.

Christopher (Julius Schröder) wird von allen Seiten bedrängt - Szene aus «Supergute Tage». (Bilder: Philip Frowein)

Der Titel ist höchst ironisch. Denn es sind alles andere als «supergute Tage», die der junge Christopher durchmacht. Der Hund der Nachbarin ist mit einer Mistgabel getötet worden, Christopher wird unschuldig verdächtigt. Und macht sich auf eigene Faust auf die Suche nach dem Täter.

Das ist mit Schwierigkeiten verbunden. Das eine: Christopher hat eine autistische Störung. Die Menschen und Dinge um ihn herum sind eine ständige Bedrohung. Inklusive seine Eltern, und das ist das zweite: Bei seinem «dämlichen Detektivspiel», wie der Vater schimpft, kommt er nicht nur dem Hundemörder, sondern auch dem eigenen Familiengeheimnis auf die Spur.

Beklemmende Eigenwelt

Mit Supergute Tage von Simon Stephens setzt das Theater St.Gallen einen starken Akzent zum Beginn von Jungspund, dem Festival für junges Theater. Im Zentrum steht ein Aussenseiter, Julius Schröder spielt ihn mit jener notgestählten Kompromisslosigkeit, an der alle andern sich die Zähne ausbeissen: der weichliche Vater (Manuel Herwig), die dauerüberforderte Mutter (Diana Dengler), Nachbarinnen und Ordnungshüter (Marcus Schäfer und Fabian Müller, wie alle andern in diversen Rollen im Stück beschäftigt). Nur die Lehrerin (Chantal Dubs) ist auf Augenhöhe mit Christopher. Und Toby, die Ratte.

Eine Wand zwischen Sohn und Vater: Julius Schröder, Manuel Herwig.

Das Stück hat die Tendenz, Christophers Eigenwelt und seine Hochintelligenz (über Astronomie oder Primzahlen weiss keiner Bescheid wie er) zu idealisieren und die Umwelt zu karikieren – insbesondere seine Versager-Eltern. Die Gefahr, in ein plakatives Gut-Böse-Schema zu verfallen, unterlaufen Regisseur Jonas Knecht und sein Team (Bühne Damian Hitz, Kostüme Sabine Blickenstorfer, Video Clemens Walter, Licht Dennis Scherf) jedoch geschickt und mit allen medialen Mitteln.

Eine Livekamera holt bei entscheidenden Szenen die Gesichter schmerzhaft nahe heran. Videos, raumfüllend auf die Kulissenwände projiziert, bringen surreale Ebenen ins Spiel, Fabeltiere mit sympathischen Kartonköpfen kommen Christopher zu Hilfe, wenn gar nichts mehr geht. Und Bit-Tuner Marcel Gschwend lädt das Stück mit einem gefährlich pochenden Soundtrack auf.

Dem Lärm der Welt ausgeliefert: Julius Schröder (Mitte) und das Ensemble.

Das sind denn auch die überragenden Szenen: Christopher will nach London zu seiner Mutter und gerät in einen ohrenbetäubenden Strudel von Bahnhofslärm, Schlagzeilen, schreierischer Werbung, unverständlicher Wortfetzen, Fahrplanwahnsinn – bis man bis in die eigenen flackernden Hirnsynapsen hinein zu spüren beginnt, welche Folter der gewöhnliche Alltag für Menschen mit einer autistischen Behinderung bedeuten kann.

Mit dem Löwen ins Herz der globalisierten Welt

Supergute Tage wird, nach der Festivalpremiere, ab 12. März in St.Gallen weitergespielt. Das gilt auch für die Premierenproduktion des anderen einheimischen Festivalträgers: Löwenherzen im Figurentheater. Das Stück um Kinderarbeit, erzwungene Leihmutterschaft und globale Ausbeutung, nach einem Roman der georgischen Autorin Nino Haratischwili, ist eine Koproduktion mit dem Walliser Ensemble mangischproduktionen.

Ein Löwenherz und löwenstarke Hilfe braucht der neunjährige Anand aus Bangladesch, um seinen Traum verwirklichen zu können: in die Schule zu gehen und später weltbester Zauberer zu werden. Noch näht er in einer Fabrik Plüschtiere, und seine Mutter muss erst noch als Leihmutter Geld verdienen. Drum schreibt Anand einen Wunschbrief an Gott und schickt seinen eben fertiggenähten Löwen auf die Suche nach Gott.

Der Löwe mit dem schiefen Auge und Löwenbändiger Dani Mangisch. (Bild: pd)

Den findet der Löwe zwar nicht, dafür verschlägt es ihn zu Kindern in der Wohlstandsschweiz, in Senegal und Mali – und mit ihnen mitten in die aktuelle Migrationskrise. Ein Glück, dass der Löwe ein starkes Herz hat; mit ihm hilft er dem Mädchen in Senegal, das als Aussenseiterin verstossen wird, und dem Kind in Mali, das Schlepper in einen Lastwagen verfrachten und auf die lebensgefährliche Bootsreise übers Mittelmeer schicken.

Festival Jungspund: bis 9. März, Lokremise und Figurentheater St.Gallen

jungspund.ch

Dani Mangisch und Eleni Haupt spielen den Löwen und die Kinder, projizieren mit stimmungsvoll stilisierten Bildern afrikanische und schweizerische Landschaften in den Raum, bevölkert von sorgsam geführten Schattenfiguren, und bringen die Geschichte zu einem Happyend, zumindest für Anand.

Löwenherzen packt mit verspielten Mitteln und viel Mut die brennenden Themen der globalisierten Welt an. Ob sie bereits für Zehnjährige (gemäss Altersempfehlung) rundum verständlich sind, ist fraglich – die Sympathien werden dem Löwen mit dem schiefen Auge und dem anwaltschaftlichen Herz für eine bessere Welt aber zweifellos zufliegen.

Was macht ihr hier eigentlich?

Dass Theater selber der weltbeste Zauberer ist, erlebte man an der Auftaktproduktion des Festivals. Die vierköpfige Genfer Truppe Old Masters lud in der Lok in Das Haus meines Geistes. Ein Haus, in dem Kügelchen auf einer Fläche herumrollen, dass man das Auge nicht von ihnen wenden kann, in dem Schuhe eine Schaumstoffmatte zum Wippen bringen, eine rätselhafte Küchenmaschine Geschirr zerschlägt und viele weitere umwerfend wunderliche Dinge passieren.

Im Haus des Geistes wird fröhliche Physik betrieben, unter anderem. (Bild: Julie Masson)

Jonathan, der als Fremder später hinzukommt, fragt denn auch: «Was macht ihr hier eigentlich?» Die drei anderen haben die Antwort rasch parat: «Wir machen unsere Sache.» Das ist die simple – aber abendfüllende und lebenslänglich anspruchsvolle – Botschaft des Stücks. Wie Jonathan am Ende im Stück seine Sache macht, kann man nur erleben, nicht nacherzählen.

Und zu ergänzen wäre: Mach deine Sache, was immer es sein mag, so sorgsam, so leidenschaftlich und so gwundrig wie die Genfer Old Masters! Sie beherrschen, in ihrem ersten Stück für ein jugendliches Publikum, die Kunst, mit einer kleinsten Kopfbewegung hinter ihren Masken, mit einem Fingerzeig oder in wenigen Worten Szenen voll Magie und Poesie zu schaffen.

Einschluss statt Ausschluss

Das Festival Jungspund steht zum letzten Mal unter Leitung von Gabi Bernetta; danach übernimmt, wie an der Eröffnung bekanntgegeben wurde, Ramun Bernetta die künstlerische Leitung. Das Programm geht bis Ende Woche weiter, mit gleich mehreren Produktionen rund um Männlichkeit und Geschlechterrollen, aber auch mit Stücken für Kinder ab vier Jahren.

Regierungsrätin Laura Bucher brachte es an der Festivaleröffnung auf den Punkt: Theater, wie Jungspund es versteht und anbietet, spricht Menschen jeden Alters und woher auch immer an. «Einschluss statt Ausschluss» sei die Devise dieses «Festivals der Teilhabe».

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