La Reine des Prés
Was wissen Menschen von Pflanzen? Wir können sie anschauen, züchten, riechen, aufessen (mit gutem oder schlechtem Ausgang), die Moleküle ihrer Inhaltsstoffe aufzeichnen. Und verstehen doch sehr wenig. Zum Beispiel davon, was die Inhaltsstoffe der Pflanzen, aus denen ich meinen Kräutertee mache, in solchen winzigen Mengen im Körper anstellen.
Auf Französisch heisst sie Reine des Prés, Königin der Wiesen. Das passt: Sie wird bis zwei Meter hoch, zuoberst eine Wolke aus vielen kleinen, gelblichweissen Blüten. Sie ist auch kein Kraut, sondern eine Staude, also mehrjährig, wächst an Bächen und auf feuchten Wiesen, in St.Gallen zum Beispiel am Hang unter Drei Weieren oder am Gübsensee.
Filipendula ulmaria heisst auf Deutsch Mädesüss oder Wiesengeissbart. Schon die jungen Blätter riechen wie eine ganze Apotheke, bei den Blüten vermischt sich das herbe Weidenrindenaroma mit süssem Honiggeruch und -geschmack. Man kann mit ihnen Jogurt, Sirup oder Glace würzen, aber vor allem ist Filipendula eine Heilpflanze: Sie enthält Vorläufersubstanzen von Salicylsäure, dem Wirkstoff des Aspirins, und wirkt darum entzündungshemmend und schmerzstillend. Ich kenne eine Hebamme, die auf Umschläge mit Mädesüss-Extrakt schwört: Das Beste für stillende Frauen mit Brustentzündung, sagt sie. Selber verwende ich die Blüten für Erkältungstee.
Zwischen März und Juli sammle ich den Kräuterteevorrat für das ganze Jahr, mehr als 20 verschiedene Pflanzen, natürlich keine seltenen. Zuerst Huflattich, Brennnesselblätter, Schlüsselblumen. Dann im April vor allem Himbeer- und Brombeerblätter, das Wichtigste für die Alltagsmischung, weil sie keine starke Heilwirkung haben. Brombeerblätter schmecken am besten, wenn man sie vor dem Trocknen zerquetscht und befeuchtet. So werden sie leicht fermentiert und bekommen ein Aroma fast wie Schwarztee. Im Mai geht es mit Spitzwegerich, Birkenblättern, Holunderblüten, Frauen- und Silbermantel und Tannenschössli weiter. Im Juni sind viele Kräuter schon voller Läuse, aber es ist Zeit für Schafgarbe, Thymian, Johanniskraut und Lindenblüten.
Wenn in den Bergen der Schnee geschmolzen ist, ist die Sammelsaison im Tal vorbei. Dann gehe ich gern die Alpenblumen anschauen, den Stängellosen Enzian zum Beispiel. Sie sind wunderschön, aber ich beobachte sie eher von weitem. Ganz anders als Brennnessel, Brombeer oder Filipendula, mit denen ich eng zusammenlebe.
Bettina Dyttrich, 1979, ist WOZ-Redaktorin und Buchautorin (u.a. Gemeinsam auf dem Acker, Rotpunktverlag).
Dieser Beitrag erschien im Sommerheft von Saiten.