, 25. März 2023
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In bester Gesellschaft

Am Freitag feierte Kristo Šagors Inszenierung von «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?» am Konstanzer Stadttheater Premiere. Der «garstige Dreiakter» von Edward Albee, 1962 am Broadway uraufgeführt, besticht durch eine starke Konzentration auf den scharfsinnigen, pointierten Text und ein Ensemble «on fire». von Franziska Spanner

Starkes Ensemble: Jana Alexia Rödiger, Patrick O. Beck, Sarah Siri Lee König, Julian Mantaj. (Bilder: Ilja Mess)

Albee selbst hielt den Titel des Stücks – Sprachspiel mit dem Lied «Who’s Afraid of the Big Bad Wolf?˚ – für einen «typischen Intellektuellenwitz». Seiner Ansicht nach würden nur «ein paar volltrunkene Akademiker» über so etwas lachen. So lässt in seinem Stück also das Bildungsbürgertum die Hosen runter.

Martha (Jana Alexia Rödiger) und ihr Mann (Patrick O. Beck), der Geschichtsprofessor George, sind seit über 20 Jahren verheiratet. Nach einer Fakultätsparty hat Martha zu nachtschlafender Zeit noch Gäste eingeladen: den jungen Biologieprofessor Nick (Julian Mantaj) und seine namenlose Frau (Sarah Siri Lee König) – im Stück einfach nur «Süsse» genannt.

Man begrüsst sich gezwungen höflich mit affektiertem Gelächter, auf das abrupt betretenes Schweigen folgt. Das Quartett hält diese spannungsgeladen arrogante Atmosphäre, die nur durch verbale Entgleisungen und Gefühlsausbrüche unterbrochen wird, bis zum Ende durch. Wie es in illustrer Gesellschaft zum guten Ton gehört, loben die Gäste das schöne Zuhause der Gastgeber.

Wer hat Angst vor Virginia Woolf?: bis 26. April, Theater Konstanz

theaterkonstanz.de

Das minimalistische Bühnenbild (Christl Wein-Engel) bietet sprichwörtlich den Rahmen des Geschehens. Der grell weiss leuchtende Rahmen eines Kubus, in dem mit leuchtenden Kanten eine Treppe, ein Absatz, eine Tür und ein Fenster angedeutet sind, überlässt es der Imaginationskraft der Zuschauer:innen, wie die schicke Villa des Gastgeberpaars wohl aussehen mag. Das grelle Licht wirkt unangenehm, bringt dadurch aber die feindselige Atmosphäre perfekt rüber.

Maskerade

Alle vier haben bereits ordentlich getrunken und gedenken auch nicht, damit aufzuhören. Für das Trinken sieht die Inszenierung einen bestimmten, nahezu mechanisch synchronen Gestus vor: Schnaps in die Birne. Der Häufigkeit des Gebrauchs nach zu urteilen, fliesst Alkohol in rauen Mengen. Dieser scheint die Situation für die Beteiligten erträglicher zu machen, gleichzeitig aber lockert er die Zungen und lässt die Beteiligten zunehmend ihre Hemmungen verlieren: emotional, körperlich und sexuell.

So beginnt die feine Fassade zu bröckeln. Martha und George haben offenbar Probleme in ihrer Ehe («23 Jahre mit dir reichen völlig!»), wovon vor allem Nick zunächst gar nichts wissen will. Nur: Das reifere Paar interessiert sich reichlich wenig für die Meinung ihres Gastes und zieht diesen schonungslos mit in seine Auseinandersetzung hinein («Alle, die hierherkommen, sind zum Schluss genervt.»).

Es wird viel dreckige Wäsche gewaschen und alle sehen zu. Da helfen auch die vier um die Wette funkelnden Glitzerkleider, die Martha im Laufe der Nacht zur Schau trägt (Kostüm ebenfalls Christl Wein-Engel), nicht, um den schönen Schein zu wahren. Aber vielleicht will sie das ja auch gar nicht?

Jana Alexia Rödiger gibt die Diva, nicht die Dame: schrill, aggressiv, stoisch. Patrick O. Beck als George und Julian Mantaj als Nick sind kostümtechnisch die grauen Mäuse im Stück, doch auch hier trügt der Eindruck. Die Herren teilen ordentlich aus und scheuen auch vor Handgreiflichkeiten nicht zurück.

Sarah Siri Lee König spielt dagegen die defensive Naivität der Süssen voll aus («Wissen Sie, was da drin läuft? «Ich will nichts wissen.»). Sie tanzt genussvoll kreativ zu Vangelis‘ Conquest of Paradise und setzt mit Sprachpausen und einem verzerrenden Tonfall ironische Akzente. Ihr Kostüm aus lila Strickkleid und nudefarbenem Netzbody und -Strumpfhose gibt dagegen Rätsel auf.

Die Performance überzeugt, mit einem kleinen Wermutstropfen: Sex und intime Nähe sind fast durchwegs physisch bedrohlich und exzessiv. Für die hiesige Inszenierung passend – würde es sich nur von den Darstellungen der Geschlechtlichkeit in aktuellen anderen Stücken des Konstanzer Ensembles unterscheiden. Das kommt davon, wenn Exaggeration zum Standard wird.

(Neben-)Kriegsschauplätze

Im Kampf um Aufmerksamkeit, Macht und Deutungshoheit bleibt keine/r unverschont. Es ist ein Kampf jede/r gegen jede/n, der da auf der Bühne ausgetragen wird. Das zeigt sich auch in der ständig wechselnden räumlichen Position der Figuren zueinander. Sie nähern sich an, um sich zu trösten oder sich an die Gurgel zu gehen, weil sie sich einig sind oder spinnefeind. Sie ziehen sich zurück, weil sie aufgeben oder zum nächsten Schlag ausholen. Man weiss nicht, was als nächstes kommt, und vor allem, wer (diesmal) gewinnen wird.

Die Weite des Bühnenraums wird gänzlich ausgenutzt. Spannung und Anziehung sind räumlich messbare Grössen. Das Bühnenbild reflektiert die ständig wechselnden Machtpositionen, Meinungen und Sympathien. Raum und Perspektive ändern sich durch immer wieder neues Drehen und Verschieben des Kubus. Wir können gleichzeitig in mehrere Räume blicken, in denen sich Unterschiedliches zuträgt, sodass dem Publikum auch die kleinen Kämpfe nicht erspart bleiben.

Geplatzte American Dreams

Besonders spannend in Albees Stück ist das Verschwimmen der Grenzen zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Alle Figuren geben vor, etwas zu sein: klug, erfolgreich, schön, glücklich… So eben, wie es der wahrgewordene American Dream verspricht. Doch sind sie das wirklich? Und sehen es die jeweils Anderen genauso? Wer behält am Ende Recht?

Um das herauszufinden, werden Wortgefechte ausgefochten und Spielchen gespielt. Schon dabei offenbart sich, dass Wunsch und Wirklichkeit oft weit auseinander liegen, dass – der Logik des American Dream folgend – die unbegrenzten Möglichkeiten nicht ausreichend genutzt wurden. Wäre das nicht schon schlimm genug, müssen die verpassten Chancen kaschiert werden.

Jedes Spiel hat einen Verlierer – und manchmal gibt es auch gar keinen Sieger. Šagor legt den Finger in die Wunde einer Gesellschaft voller Fassaden. Bezeichnend, dass die versammelte Konstanzer Noblesse gefügig Beifall klatschte. Verständlich: Es war ein wilder Theaterabend!

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