Im April: Saiten im Angesicht des…
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Frühling, alles will ans Licht, und Saiten schreibt vom Tod. Der scheinbare Gegensatz ist gewollt, und je nach Menschenbild hängt eins mit dem andern sowieso unauflösbar zusammen. «Media vita in morte sumus» hat Notker um das Jahr 750 in St.Gallen gedichtet – Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen.
Das stimmte damals allerdings noch in einem wörtlicheren Sinn als heute. Vom Tod wollen in einer Zeit, in der die Lebenserwartung zumindest in der Wohlstandsschweiz bald einmal bei 90 Jahren liegt, viele nichts sehen und hören. Das Sterben soll möglichst unsichtbar und klinisch stattfinden – das ist zumindest die eine Seite der Realität. Die andere gibt es auch, und wir sind bei der Arbeit an diesem Heft vielfach darauf gestossen: Sterbebegleitung, Palliativmedizin, Patientenverfügungen, aber auch Sterbehilfe und andere ethische Fragen um das finale Selbstbestimmungsrecht werden mehr und mehr öffentlich diskutiert. Der Grund dürfte trivial sein: Die alternde Gesellschaft kommt um sie nicht mehr herum.
Und das Niveau der Diskussion ist hoch. Im Angesicht des Todes haben Plattheiten und Ideologien keinen Platz mehr. In diesem Heft kommen Menschen zu Wort, die sich aus persönlicher oder professioneller Betroffenheit mit Sterben und Tod auseinandersetzen: die Sterbebegleiterin, die Ärztin, die Sterbewillige auf ihren letzten Gang schickt, der Altersheimleiter und die 92-jährige Heimbewohnerin, die Betreuerin eines krebskranken Kindes, die Verfechterin des Freitods. Die Bilder stammen vom deutschen Fotografen Walter Schels, der Menschen vor und nach dem Tod porträtiert hat. Er lässt uns, wie hoffentlich die Texte auch, dem Tod ins Auge schauen.
Glücklich, wer dies gelassen tun kann. Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann konnte es nicht – aus dem kürzlich aus dem Nachlass herausgegebenen Band Male oscuro mit «Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit» nach dem Zusammenbruch 1962 spricht eine quälende Rebellion gegen das «dunkle Übel», das die Autorin bis zum Tod 1973 nie mehr losliess. Es sind Anklagen an die Medizin und Traumnotate aus einem Seelengefängnis, zu dem sie und niemand sonst einen Schlüssel fand. «In diesen Anstalten hier kann man nicht überleben, man soll mich also lieber umbringen auf eine harmlose Weise», heisst es 1973 in einem Briefentwurf an den Verleger Siegfried Unseld. «Denn die Leiden sind furchtbar, unvorstellbar, tierisch, wenn das nicht ein falsches Wort wäre. Man leidet ja wie ein Mensch, das ist das schlimmste. Der grösste Irrtum der Psychiatrie ist, dass sie meint, der Kranke habe eine Zukunft. Die hat er eben nicht. Er hat die Krankheit, damit also die Vergangenheit, nichts als das. Er hat nichts anderes, er ist dort, wie ein Tiefkühlgemüse, festgefroren. Er hat die Endstation erreicht.»
Zeugnisse wie dieses gibt es vermutlich ebenso viele wie umgekehrt Erfahrungsberichte von der eigentümlichen Beglückung im Angesicht des Todes, wie dies etwa die Eltern des kleinen Vincent beschreiben. Bei dieser letzten aller letzten Fragen ist alles offen. Ausser das eine: Es trifft uns alle.
Weiter im Heft: der neu gestaltete, erweiterte Kulturteil, neue Kolumnen, neue Rubriken. Viel frühlingshafter Aufbruch also…
Peter Surber
Der Inhalt:
Reaktionen/In eigener Sache
Blickwinkel von Wassili Widmer
Stadtpunkt von Dani Fels
Stimmrecht von Gülistan Aslan
Redeplatz
mit Pino Stinelli
Gastrecht
von Rainer von Arx
Herr Sutter sorgt sich… von Bernhard Thöny
Evil Dad von Marcel Müller
Im Angesicht des…
Sterben: Versuch einer Annäherung
Psychoonkologin, Sterbebegleiterin und Ethiker geben Auskunft.
von Urs Fitze
Der Mann mit dem Schnauz
von O.G.
Schlaf, Chindli, schlaf
Wenn ein Kind stirbt: Die Betreuerin erzählt.
von Frédéric Zwicker
Grand Hotel der letzten schönen Tage
Ein Besuch bei Frau Kühn im Hof Riedern.
von Claudio Bucher
«Hätte ich den Eid geschworen, würde ich ihn brechen»
Interview mit Erika Preisig, Sterbehelferin.
von Frédéric Zwicker
Sterben lassen
von Corinne Riedener
Letzter Wille. Die Infos.
Elisabetta fährt nach Hause.
von Julia Sutter
Die Bilder zum Titelthema stammen von Walter Schels.
Perspektiven
Flaschenpost von Nina Keel aus London
#saitenfährtein: Frauenfeld
Im Eisenwerk, im Bücherreich.
von Peter Surber
Appenzell Ausserrhoden
Rheintal
Winterthur
Toggenburg
Kultur
Mystik und Wortlaut: Das Interview mit Hildegard Elisabeth Keller.
von Peter Surber
Kultursparen? Kulturmachen! Kultur fördern!
von Peter Surber und Josef Felix Müller
Gut so: Papst und Abstinenzler mit Album Nummer drei.
von Frédéric Zwicker
Zweimal Jugendtheater zum Ersten und Zweiten Weltkrieg.
von Inka Grabowsky
Wolfram Lotz: Rede zum unmöglichen Theater
Miklós Klaus Rózsa, Fotograf des Widerstands.
von Michael Felix Grieder
Der Kulturparcours – quer durch die Ostschweiz.
Mixologie von Niklaus Reichle und Philipp Grob
Am Schalter im April: Daniel Ammann
Abgesang
Kehl buchstabiert die Ostschweiz
Kellers Geschichten
Charles Pfahlbauer jr.
Kreuzweiseworte