Hier wird nichts gespielt
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«Das ist kein Spiel. Hier gibt es kein Geschehen, das Sie ansprechen soll. Wir zeigen Ihnen nichts…». Gerade einladend ist es nicht, was die vier Schauspielerinnen und Schauspieler uns da an den Kopf werfen. Und ähnlich desillusionierend geht es weiter im Text: «Sie erleben hier keine Intrigen. Sie erleben nichts. Sie stellen sich nichts vor. Sie brauchen sich nichts vorzustellen. Sie brauchen keine Voraussetzung. Sie brauchen sich nicht erwartungsvoll zurückzulehnen. Sie brauchen nicht zu wissen, dass hier nur gespielt wird. Wir machen keine Geschichten. Sie verfolgen kein Geschehen. Sie spielen nicht mit. Hier wird Ihnen mitgespielt.»
Das war sie, die grosse Theaterprovokation 1966, als die Publikumsbeschimpfung des damals 24-jährigen Peter Handke am Theater am Turm in Frankfurt uraufgeführt wurde, inszeniert vom gleichfalls jungen Claus Peymann. Das Stück unterlief alle Erwartungen, die das Publikum damals noch an ein ordentliches Drama stellte. Bereits eine der Folgeaufführungen in Berlin 1967 führte denn auch zum Eklat, das Publikum rebellierte und kehrte das Stück um zur Schauspielerbeschimpfung – in der Folge verbot Autor Handke weitere Aufführungen bis zum Jahr 1983.
So alt wie die Kellerbühne
Hans Rudolf Spühler hat das Stück als Schauspielstudent in Basel kennengelernt. Man habe sich damals natürlich intensiv mit solchen neuartigen Theaterformen beschäftigt, sagt Spühler, langjähriges St.Galler Ensemblemitglied und seit drei Jahren pensioniert. Jetzt spielt er zusammen mit Kathrin Becker das ältere Duo im Stück, neben ihnen die vierzig Jahre jüngeren Julian Sigl und Meret Bodamer.
Für Matthias Peter, den Leiter der St.Galler Kellerbühne, passt Handkes Stück ideal als Jubiläumproduktion – umso mehr, als es erstaunlicherweise noch nie in St.Gallen gespielt worden sei. Die Kellerbühne ist fast genauso alt wie die Publikumsbeschimpfung, und die Fragen, die dieses wohl erste postdramatische Theaterexperiment im deutschsprachigen Raum aufwirft, begleiteten auch die Tätigkeit des St.Galler Kleintheaters über all die Jahre.
Allerdings: Die provokative Sprengkraft sei heute kaum noch vorhanden. Theatergänger seien experimentelle Theaterformen längst gewöhnt, und insbesondere für das in der Kellerbühne heimische Kabarettpublikum sei die «direkte Ansprache» im Text von Handke eine Selbstverständlichkeit. Deshalb setze er als Regisseur weniger auf Provokation als vielmehr auf das «intellektuelle Vergnügen», welches im Text und seinen Radikalreflexionen über das Theater drin stecke.
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Das Handke-Ensemble (v.l.): Meret Bodamer, Julian Sigl, Hans Rudolf Spühler, Kathrin Becker. Bilder: Timon Furrer
«Ihr Schleimscheisser»
Dieses Vergnügen spürte man bereits bei unserem Probenbesuch von Seiten der Schauspieler – inklusive das Suchen nach der richtigen Tonalität. Wie direkt soll man das Publikum ansprechen, wie lösen sich solistisches und chorisches Sprechen ab, mit welcher Schärfe oder welcher Beiläufigkeit sollen die «ungeheuerlichen» Sätze Handkes fallen? – Sätze wie «Hier werden die Möglichkeiten des Theaters nicht genutzt», oder auch: «Sie sind das Thema. Sie schürzen den Knoten. Sie lösen den Knoten. Sie sind der Mittelpunkt.»
Oder schliesslich, kurz vor dem Ende, die tatsächliche Beschimpfung, die dem Stück den Namen gegeben hat: «…ihr Maulaffenfeilhalter, ihr vaterlandslosen Gesellen, ihr Revoluzzer, ihr Rückständler, ihr Beschmutzer des eigenen Nests, ihr inneren Emigranten, ihr Defätisten, ihr Revisionisten, ihr Revanchisten, ihr Militaristen, ihr Pazifisten, ihr Faschisten… ihr Pöbel, ihr Schweinefrass, ihr Knicker, ihr Hungerleider, ihr Griesgräme, ihr Schleimscheisser, ihr Protze, ihr Niemande, ihr Dingsda.»
Für die Kellerbühne und ihr 50jähriges Herzensverhältnis zum Publikum gilt vermutlich eher die Verabschiedungsformel, die Handke danach doch noch anschliesst: «Sie waren hier willkommen. Wir danken Ihnen. Gute Nacht.»
Peter Handke: Publikumsbeschimpfung: Mittwoch, 4. März, 20 Uhr (Premiere), weitere Vorstellungen bis 14. März. kellerbuehne.ch
Ausstellung 50 Jahre Kellerbühne: Historisches und Völkerkundemuseum St.Gallen. Podiumsdiskussion in der Ausstellung: Sonntag, 29. März, 11 Uhr. hvmsg.ch
Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.