, 29. Dezember 2023
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Gute Sätze 2023 – Teil 2

Auch 2023 waren bei Saiten wieder denk- und diskussionswürdige Sätze zu lesen. Hier unsere höchst subjektive Auswahl aus Print und online von Juli bis Dezember. Guete Rutsch!

Der schickste Breifkasten der Alpennordseite, entdeckt von Larissa Kasper.

Juli/August

Dass die Frage «wer darf wo spielen?» erst dann gestellt wird, wenn eine Band mit ausschliesslich männlicher Besetzung, die seit Jahren landauf landab tourt, einmal ein Konzert weniger spielen können, respektive dieses an einem anderen Ort durchführen müssen, ist ein Zeichen dafür, dass der Status quo nie ernsthaft als solcher hinterfragt wurde.

Jessica Jurassica, Matthias Fässler und Julia Kubik in Knöppel in den Pfalzkeller

 

Der Beinahekollaps war ein kollektives Versagen. Die jetzige Verwaltung des Schwarzen Engels ist sich dessen bewusst. Sie distanziert sich von jeglichen Vorverurteilungen und Spekulationen, will stattdessen die Vergangenheit aufarbeiten. Und sie betont, derlei Misswirtschaft nicht mehr zu dulden.

David Gadze und Roman Hertler im Beitrag Von Engeln und Pleitegeiern aus dem Sommerheft

 

Sie [die Journalist:innen in Ausbildung] wissen, wie elementar die Pressefreiheit für ein Land ist. Geht ein Journalist ins Gefängnis, wachsen zwei neue nach.

Cuma Daş vom Journalistenverein Dicle Firat DFG in der Reportage aus der Türkei zum Zweiten Präsidentschaftswahlgang.

 

Jan Rutishauser möchte wegen des Endes seines monatlichen Beitrags nicht von einem Braindrain bei Saiten sprechen, denn er mag es nicht, ausgelacht zu werden. Trotzdem: Die Beliebtheit der Warum-Kolumne ist nicht von der Hand zu weisen. Für einige Menschen war sie sogar das Einzige, was sie von Saiten gelesen haben. Den Rest hat er seinen Eltern gar nicht erst geschickt.

Jan Rutishauser in der Warum?-Kolumne

 

September

Er habe ohnehin nicht den Wunsch, in die Politik zu gehen, sondern sehe es «als Höchststrafe, wenn ich nach Bern gehen müsste», sagte Stefan Millius kürzlich in einem Talk. Ob eine Wahl für ihn selbst die Höchststrafe wäre oder für die Schweizer Politik, sei dahingestellt. Am besten tun wir ihm den Gefallen und wählen einfach andere.

David Gadze im Beitrag Von der Strasse in die Politik aus dem Septemberheft

 

Globuli, Quantenheilung, Klangmeditation – sollen alle machen, was sie wollen, solange es nur sie selber betrifft. Nennen wir es selbstgewählte natürliche Auslese. Doch wenn Kindern ein ideologisches Weltbild eingehämmert wird, wenn sich Gemeinschaften abkapseln und Parallelstrukturen in Bildung oder Medizin aufbauen, hört der Spass auf. Gerade in links-alternativen Kreisen sollte es ein absolutes Tabu sein, dass der ursprünglich antiautoritäre Reflex zu neuem autoritärem Denken führt, egal wie ökologisch, nachhaltig oder sozialromantisch ein Konzept scheint. Darum gilt es, umso genauer hinzuschauen – wie schon in den früheren Lebensreformbewegungen.

Corinne Riedener in Heil der Kommune

 

Die Textarbeit ist ebenso schludrig wie die Beweisführung für die abwegigen Verschwörungstheorien: Für die Herisauer Variante hatten die Verfasser:innen an einigen Stellen vergessen, Wittenbach durch den Ausserrhoder Hauptort zu ersetzen.

 

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In Zeiten eines faschistisch-konservativen Backlashs und unzähliger Angriffe auf queere und weibliche Körper und deren Selbstbestimmung und Unversehrtheit ist das Kultivieren von queerfeministischen Räumen aber nicht nur Aufwertung, sondern eine notwendige Form von Widerstand.

Jurassica Jurassica in Fehler im System

 

Manchmal komme ihr der Himmel über der Schweiz aber wie zugedeckt vor, wie unter einer Glocke. Schnell wird klar, dass Leila Bock Offenheit liebt, ebenso wie Beweglichkeit und Weite. Nur wer in die Weite geht, könne in vielen Richtungen etwas gewinnen, sagt sie in ihrer zuversichtlichen Art. Es sind Eigenheiten, mit denen sich sowohl Himmel als auch Kunst beschreiben lassen. Überhaupt geniesst der Himmel in unserer Kultur eine positive Konnotation. Und genau das soll der Geile Block auch sein: Ein offener Ort der grenzenlosen Freude für Kunstschaffende und Besuchende gleichermassen.

 

E macht mir Angst, dass bestehende Errungenschaften wieder in Frage gestellt werden. Und wenn noch ungeoutete Jugendliche die queerfeindlichen Äusserungen von Esther Friedli hören, ist es für die Betroffenen richtig schlimm. Der aufkeimende Faschismus und der Hass haben viel mit der sich verschärfenden sozialen Ungerechtigkeit zu tun. Man weiss es aus der Geschichte: Immer in Zeiten von grosser sozialer Ungleichheit kommt es zu mehr Gewalt und zum Faschismus. Deshalb ist für mich die soziale Frage so wichtig. Dass die Bürgerlichen diese Entwicklung zulassen, ist mir ein Rätsel – ist es Gier?

Joel Müller im Redeplatz-Interview von Andi Giger und René Hornung

 

Buchstadt St. Gallen? Bei diesem Stichwort denken viele an die Stiftsbibliothek und an die Bücher, die von hiesigen Büchermacher:innen und Verlagen gestaltet und herausgegeben werden. Die Bibliotheca Masonica August Belz steht da etwas im Schatten. Zu Unrecht. Sie gehört nämlich zu den bedeutendsten Freimaurer-Bibliotheken Europas, ist eine Schatzkammer, bei der noch vieles zu entdecken wäre. Eine Schatzkammer, die für Aussenstehende aber auch wie ein geistiges Labyrinth wirken kann.

Peter Müller in Die Biblioteca Masonica und ihre Welten

 

Oktober

Manchmal frage ich mich, warum Gesang in der Bildungspolitik so eine schlechte Lobby hat. Im Singen kommen das Ich und das Miteinander zusammen. Für die Entwicklung der Stimme, der Sprache und auch der Persönlichkeit ist das Singen ganz entscheidend.

 

Wer Kulturpolitik in ihrer ganzen Breite und Komplexität begreift, kann fast überall mitreden und hat Anschluss in alle möglichen Politikfelder. Oder zugespitzt: Es gibt keine komplettere Politikerin als die Kulturpolitikerin. Das ist doch eigentlich ziemlich sexy. Dieses Profil muss allerdings erst noch erfunden werden, vor allem auf nationaler Ebene.

Corinne Riedener in Kulturpolitike:rinnen gesucht

 

Auf dieser Insel spürst du die Welt unmittelbar, meinte ein Bekannter beim Bier, und es stimmt: Selbst als wiederkehrender Besucherin ergeht es mir so. Diese Spannweite an Realitäten auf so kleinem Raum. Du sitzt in einer Bar und sprichst mit einem Frontex Mitarbeiter und einer NGO-Juristin – und kriegst, wenn du mal innehältst, das alles im Kopf nicht zusammen. Und merkst, dass du selber zuhause – auf deiner eigenen Insel – im Alltag die Dinge ausblendest, weil du sonst wahnsinnig würdest oder zumindest nicht durch Arbeit, Wäsche und Beziehungen kämst. Und der Groschen fällt, dass halt für Menschen, die auf Lesbos leben, vieles Alltag geworden ist, das uns schreckt. Wo wir hingegen hinschauen und wieder wegschauen können.

Marguerite Meyer in ihrer Flaschenpost aus Lesbos

 

Heute sind die Männer, die in Musik und Medien in Machtpositionen sitzen, erschüttert. Die «Republik» ist erschüttert und als ich G.s Label im März über seine Übergriffe informierte, waren die ebenfalls erschüttert – und sie sind es immer noch. Dass männlich geprägte Organisationen in einem System, das jungen Männern Abuser als Vorbilder auftischt, erschüttert sind, wenn Männer zu Tätern werden, ist heuchlerischer Bullshit zum reinen Selbstschutz.

 

Anna Stern hat sich mit blau der wind, schwarz die nacht. radikalisiert. Als Schriftstellerin, indem sie kompositorisch und sprachlich staunenswert ideenreich ans Werk geht. Aber auch thematisch, indem die fortschreitende Zerstörung der Umwelt sich spiegelt in den Ängsten der Menschen und ihrer Unfähigkeit, miteinander zu leben.

Eva Bachmann in Das Buch vom Schwarz

 

Links oben auf der engen Balustrade, fast senkrecht über der Bühne, war sein Premierenplatz. Er kam, wenn es dunkel wurde im Saal, und war meist weg, wenn der Schlussapplaus noch anhielt. Werner Signer, der Zuschauer auf dem Hochsitz abseits des Rampenlichts: Das Bild passt für den Mann, der mehr als 30 Jahre lang die Fäden am Theater St.Gallen gezogen hat. Er war der starke Mann im Hintergrund, ein Ausdruck, den er selber nicht gern hörte – «primus inter pares» war ihm lieber, oder: «Ermöglicher». Aber die andern kamen und gingen, der Primus blieb.

November

Ein Grund, warum ich Journalistin geworden bin, ist, dass mein Job darin besteht, Fragen zu stellen. Ich schreibe über Dinge, weil ich sie nicht verstehe, in der Hoffnung, dass ich sie danach besser verstehe. Und wenn die Welt immer grösser und komplizierter wird, will ich wenigstens halbwegs verstehen, was unmittelbar um mich herum passiert, sei es nun in der Politik, in der Gesellschaft oder in der Kultur. Darum mache und schätze ich den Lokaljournalismus.

Corinne Riedener im Editorial zum Novemberheft

 

Wenn auf den Redaktionen gespart wird, wenn die Journalist:innen nicht mehr die Zeit oder die Kompetenz haben, hinter die Kulissen zu blicken und Dinge sauber einzuordnen, während auf der anderen Seite ein hochgerüsteter PR-Apparat steht, wirkt sich das negativ auf die einordnende Berichterstattung aus.

Linards Udris im Interview «Der Wahlkampf hat die Schweiz nicht bewegt»

 

Ich bin nicht links geworden, um mich selbst auszubeuten. Wenn ich es mir leisten kann, meine Arbeitsbelastung zu reduzieren, will, ja muss ich das tun. Auf meine innere Gewerkschaft hören, um zu spüren, was nötig ist. Und das dann durchziehen.

Anna Rosenwasser in ihrer Novemberkolumne

 

Es ist jetzt einfach, auf der Kirche herumzuhacken. Gerade kürzlich stand in der Zeitung etwas von einem übergriffigen «katholischen Lehrer». Was seine Konfession mit den Übergriffen zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Das pauschale Rumhacken auf der Kirche ist scheinheilig. Was passiert denn, wenn in der Privatwirtschaft eine Sekretärin einen Übergriff durch ihren Vorgesetzten meldet? Im schlimmsten Fall wird sie – und nicht er – entlassen.

 

Dezember

Die Privatisierung des Gesundheitswesens war wirklich eine der blödesten Ideen der bürgerlichen Politik in den letzten 20 Jahren. Es ist doch – fernab von jeglicher Ideologie – völlig absurd, dass unser Gesundheitssystem so durchkapitalisiert ist. Gesundheit ist keine Ware.

Ronja Stahl in «Gesundheit ist keine Ware»

 

Dem Krieg in Nahost begegnet Samira mit grosser Ablehnung. Sie verurteilt die Angriffe der Hamas auf Israel aufs Schärfste, es ist der einzige Moment im Gespräch, bei dem ihr die Worte fehlen. Sie hält aber auch die Politik der israelischen Regierung und den Gegenangriff für falsch. Verteidigung sei legitim, aber wo fange Verteidigung an, wo werde sie zur Rache? Die militärische Antwort Israels sei in dieser Form jedenfalls nicht zielführend. «Man kann eine Ideologie wie die der Hamas nicht mit Gewalt auslöschen. Man stärkt sie dadurch nur. Das sieht man letztlich auch an diesen Sympathiebekundungen in ganz Europa.»

David Gadze im Beitrag Die Türen zum Dialog offen halten aus dem Dezemberheft

 

Man könnte meinen, Terror sei eine völlig kontraproduktive Vorgehensweise, um Sympathien und Solidarität zu erlangen. Aber gerade München 1972 verschaffte der palästinensischen Sache weltweit neue Aufmerksamkeit. Der schreckliche Vorfall beeinflusste sogar ein Stück weit die öffentliche Meinung gegen Israel, sie wurde zum Negativen verändert. Ein paradoxes Phänomen, das auch heute, nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober, zu beobachten ist: Hunderttausende protestieren auf den Strassen Europas und in den USA gegen Israels angeblichen Genozid im Gazastreifen.

 

Eine zerstrittene Linke nützt am Ende immer den Rechten. Diese lachen sich schon seit Wochen hämisch ins Fäustchen, weil sie gemerkt haben, dass Antisemitismus nicht nur in ihren Kreisen salonfähig, sondern ein Problem der ganzen Gesellschaft ist.

Corinne Riedener in Ich habe Fehler gemacht

 

«Ich positioniere mich als Schwarze Person, wenn das nötig ist, aber ich will mich nicht als Schwarze Künstlerin positionieren. Meine Kunst soll für sich selbst stehen.»

Juliette Uzor in Befreiungstanz

 

Ob mit dem Umbau in zehn Jahren auch die Mentalitäten in diesem Museum renoviert oder dekolonialisiert sein werden? Bis dann muss man es wohl aushalten, dass im Shop immer noch – aber angesichts der Ausstellung «Guter Stoff» eigentlich folgerichtig – Markus Somms Buch Warum die Schweiz reich geworden ist aufliegt. Es enthält nämlich giftigen Stoff: die längst widerlegte These, der Wohlstand unseres Landes, seine Textilindustrie und seine Industrialisierung hätten mit Sklaverei nichts zu tun gehabt.

Hans Fässler in Guter Stoff ist auch genügend

 

Guete Rutsch!

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