Gute Sätze 2022: die Surber-Edition

2G oder 2G+ schliesst zwar einige Menschen von Kulturanlässen aus, bis vorerst 24. Januar. Aber erstens geschieht dies selbstgewählt – und zweitens gibt es härtere Ausschlüsse, für die die Betroffenen nichts können. Treppen, wo kein Rollstuhl durchkommt. Informationen, die für Sehbehinderte nicht entzifferbar sind. Webseiten voller Barrieren. Und so weiter.
Barrierefrei zur Kultur, Kommentar im Januarheft
Was aus dem Ganzen zu lernen wäre? Zumindest dies: Geschichte kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber sie kann und muss erforscht werden, tabulos und mit maximalem Respekt vor ihren Opfern.
Editorial zum Februar-Bührle-Saiten
Am [Theater-]Provisorium offenbart sich ein Stadt-Land-Graben der unkonventionellen Art. Die Landgemeinden sehen im Provisorium die Chance für einen kulturellen Aufbruch – die Hauptstadt hält es für ungeeignet.
Provisorium: Land toppt Stadt, online 9. Februar
Vorderhand bleibt der Eindruck: Jan Henric Bogen macht das, was der Verwaltungsrat von Konzert und Theater St.Gallen von ihm erwartet hat. Er krempelt das Haus nach dessen Vorstellungen um. Bogens bisherige Entscheide sind und waren direktiv – ob und wann er die Kurve zum versprochenen partizipativen Weg findet, muss er erst noch beweisen.
Bogen macht tabula rasa, online 11. März
Liest man diese Erzählung wieder, den Bericht aus einem Land, das es nicht mehr geben soll nach dem Willen Putins, so wird noch einmal klarer, dass der Angriff auf die Ukraine auch der Idee von Pluralität und Diversität gilt, die die abendländische Moderne kennzeichnet. Und die in der Ukraine nicht bloss eine Idee, sondern zumindest in Teilen des Landes und der Bevölkerung gelebte Realität war.
Angriff auf die Pluralität, online 16. März
Der Verwaltungsrat von Konzert und Theater St.Gallen setzt sich aktuell zusammen aus vier Bankern, drei Jurist:innen, einer Marketingspezialistin, einem Germanisten, einer Zahnärztin, den Vertretungen von Regierung und Stadtrat St.Gallen, drei Delegierten des St.Galler Kantonsrats und einer Delegierten des Stadtparlaments. Der VR widerspiegelt damit in keiner Weise die gesellschaftliche Vielfalt. Weder sind die Jungen angemessen vertreten noch migrantische Kreise, weder People of Colour noch Menschen mit Handicap. Und insbesondere fehlt es an Theater-Knowhow, an der Stimme der Kulturschaffenden und jener des Publikums. Diversität bleibt eine leere Floskel, wenn sie nur unten und nicht oben gelebt wird.
Theater St.Gallen: Wo bleiben die Inhalte?, online 1. April
Der Verzicht auf musikalisch «fetziges» russisches Waffengeklirr im öffentlichen Raum ist angesichts der Tragödie in der Ukraine nachvollziehbar. Allerdings war solche Correctness an den St.Galler Festspielen bisher nicht das Thema.
Die St.Galler Festspiele sagen Njet, online 22. April
Man kommt unversehrt aus diesem Stück, das die Vielzahl an Anspielungen mit wachsender Unverbindlichkeit bezahlt. Das mag auch eine Qualität «made in Switzerland» sein – lieber unversehrt als unversöhnlich.
Tell trifft ins Schwarzweisse, online 25. April
Weiter mit dem Regionalexpress nach Friedrichshafen. Am Fenster ziehen Obstspaliere, Reben, Einfamilienhäuser vorbei. Weit und breit kein See in Sicht. Spätestens da wird dem Reisenden klar: Per Bahn um den Bodensee, das macht sonst niemand. Der Berufsverkehr braucht keine «Märklinbahn», sondern gute Anschlüsse dort, wo gearbeitet wird.
Oper unter freiem Himmel braucht deutliche Mittel. In der diesjährigen Festspielproduktion nimmt man sie, obwohl manchmal etwas gar didaktisch, gern in Kauf. Weil die Inszenierung so konsequent wie paradox aus der Hauptfigur heraus entwickelt ist. Weil sie ganz im Sinn Schillers «den Weg zum Kopf durch das Herz» öffnet. Und weil der Krieg da ist, jetzt, aktuell, knapp 2000 Kilometer vom Klosterplatz entfernt.
«Stop War» vor den Klostertürmen, online 26. Juni
Auf bald also, in der Badi, auf dem Lisengrat, in Balkonien, im Hudelmoos oder auf dem Baum. Und mit der Frage im Hosensack oder auf dem Gepäckträger: Tuts dem Klima gut, was ich da grad tue?
Editorial im Sommerheft zum Thema Outdoor
Es ist wie beim Pilzesuchen. Hat man das Auge einmal darauf eingestellt, entdeckt man sie auf Schritt und Tritt. Hier in der Stadt, das Auge auf Grün geschaltet, ist es auch so beziehungsweise gerade umgekehrt. Auf Schritt und Tritt fällt einem auf, was fehlt: Bäume!
Die Gegen-Bewegung, Sommerheft
Es könnte dereinst ein Song von Stahlberger werden: das Lied vom unaufhaltsamen Aufstieg von dirty St.Fiden zum Oerlikon von St.Gallen. Und es klingt auch ein bisschen Dürrenmatt an, sein Besuch der alten Dame: Eine private Gruppe von Initianten will St.Fiden zum urbanen Stadtteil machen. Sie zahlt eine halbe Million Franken an eine vertiefte Machbarkeitsstudie, garantiert die Planungskosten von rund 26 Millionen Franken und verspricht auch, den Deckel über den Gleisen (gegen 300 Millionen Franken) vorzufinanzieren.
Ausgebremst: St.Gallens Oerlikon, online 8. Juli
Der Doppelabend, rasant inszeniert von Chefdramaturgin Anja Horst und Schauspieldirektor Jonas Knecht, bietet amüsante Einblicke in einen Theateralltag, in dem die Bühne mehr Jahrmarkt der Eitelkeiten als moralische Anstalt ist. Ein Ort, wo es auf den richtigen Abgang eher ankommt als auf die innere Haltung.
Und wo, nach Irm Königs Überzeugung, das Ende überschätzt wird. Was allerdings nicht stimmt für Schauspieldirektor Jonas Knecht, der letztmals in dieser Funktion in der Lokremise inszeniert. Und ebenso wenig für jene Ensemblemitglieder, deren Verträge nicht verlängert werden – im Moment finden unter der künftigen St.Galler Schauspieldirektorin die entsprechenden Gespräche statt.
Pimmeldramatik, Deppen und Diven, online 16. September
Keine Frage zwar, dass trotz des Kriegs gegen die Ukraine russische Stoffe gespielt werden dürfen, werden sollen – keine Frage, dass Anna Karenina auch oder gerade 2022 auf dem Spielplan stehen und eine Inszenierung auf alle Anspielungen auf den heutigen Krieg verzichten kann. Aber mit Mickey Mouse tanzt die Regie auf einem fatalen Parkett. Kaum eine andere Figur verkörpert so sehr die kommerziellen und popkulturellen Hegemonie-Ansprüche des American Way of Life. Dass sich Tolstois junge Menschen die Befreiung aus ihren Geschlechterrollen ausgerechnet mit US-Hilfe holen sollen, wirkt so wenig nachvollziehbar wie der tollkühne Verweis auf Walter Benjamins «Engel der Geschichte», von dem ein Textausschnitt vor Beginn des Stücks auf der Leinwand prangt.
Jung, reich, eingesperrt, online 30. September
Und Voraussetzung dafür wäre, wiederum auf St.Gallen bezogen, von Milo Rau nicht thematisiert, aber sein Konzept konsequent weitergedacht: dass auch an der Spitze der Institution, im Verwaltungsrat der Genossenschaft Konzert und Theater St.Gallen, möglichst viele und diverse Kreise vertreten wären – und nicht, wie es heute der Fall ist, das Gremium von Bankiers und Vertreter:innen des Politestablishments dominiert wird.
Über Milo Rau im Novemberheft