Guillermo Tell und der Augenarzt
José Rizal (1861-1896), der Nationalheld der Philippinen, hatte nur ein kurzes, dafür aber bewegtes Leben. Er wurde Augenarzt, lebte 1882-1886 in Europa und wurde als Journalist und Schriftsteller zum Vordenker der philippinischen Unabhängigkeitsbewegung. Die Philippinen waren damals eine spanische Kolonie, Rizals Kritik richtete sich vor allem gegen das gesellschaftliche System und die Macht der Priester und Mönche.1896 brach in Manila ein Aufstand gegen Spanien aus, José Rizal wurde als Hauptverantwortlicher hingerichtet – obwohl er sich immer gegen Gewalt ausgesprochen hatte. Eine Biografie wie geschaffen für einen Roman.
Annette Hug: Wilhelm Tell in Manila, Wunderhorn 2016, Fr. 28.90
Lesung: Mittwoch, 14. September, 20 Uhr, Comedia St.Gallen
Autorinneninterview in der WOZ hier.
Annette Hug, Autorin in Zürich, hat dafür einen hochinteressanten Nebeneingang gewählt: Rizal hat, auf Anregung seines Bruders, Friedrich Schillers Bühnenklassiker Wilhelm Tell (1804) in seine Muttersprache Tagalog übersetzt. Das Stück sollte auch auf den Philippinen seine Wirkung entfalten können, die Rizal ähnlich unterdrückt sah wie die vier Waldstätte im Mittelalter, wobei Rizal der revolutionären Gewalt – wie erwähnt – skeptisch gegenüberstand. Annette Hug ist für diesen Ansatz prädestiniert. Sie studierte in Zürich und Manila Geschichte und Women and Developement.
Was heisst «Lawine» auf Tagalog?
Der Hauptstrang des 200-seitigen Romans widmet sich Rizals Übersetzungsarbeit, darin verwoben sind biografische Rückblenden und die Nacherzählung von Schillers Tell aus der Sicht Rizals. Äussere Spannung und Dramatik gibt es da wenig, innere dafür umso mehr. Wilhelm Tell in Manila berichtet vom Abenteuer des Übersetzens, vom Denken und Fühlen im Schnittbereich verschiedener Sprachen, vom Suchen nach Wörtern und Bildern (Was heisst «Landvogt», «Lawine» oder «Natur» auf Tagalog?). Dazu kommt ein faszinierendes Geflecht von Bezügen. Rizal sieht Europa zum Teil mit den Augen eines Ethnologen, ist dort aber auch selber Gegenstand ethnologischen Interesses. Er stösst auf Wissenschaftler und Bücher, die ihm Wichtiges über seine Heimat vermitteln, und ist seinerseits Kulturbotschafter seiner Heimat. Er realisiert, wie viel ihm die europäische Kultur schenkt, weiss aber auch, wie sehr die Europäer und vor allem die Spanier der Kultur seiner Heimat geschadet haben – zum Beispiel im Schulwesen oder beim Zerstören oder Verkümmern-Lassen von Traditionen.
Schillers Wilhelm Tell erhält in der Begegnung mit der Sprache und der Lebenswelt der Philippinen neue, unbekannte Facetten. Rizal selbst ist von Schillers Text sicher auf die eine oder andere Weise beeinflusst worden und ist heute – wie Wilhelm Tell – ein Nationalheld. Und wir Leserinnen und Leser in der Schweiz realisieren: Auch wir müssen den Tell – jahrzehntelang das «Nationalstück» unseres Landes – im Grunde genommen neu übersetzen, in unsere Gegenwart holen, wenn wir ihm ernsthaft begegnen wollen.
Zur Uraufführung kam es nicht
In José Rizals Leben und Nachleben erhält man durch die Optik des Buches allerdings nur einen begrenzten Einblick. Das zeigt sich schnell, wenn man im Internet nach ihm googelt. Und gelegentlich wirkt Wilhelm Tell in Manila auch etwas angestrengt und über-literarisch. Mit Gewinn zu lesen ist der Roman trotzdem, und ein Beleg dafür, wie spannend Nebeneingänge sein können. Man muss zu einem Thema nicht immer den naheliegenden, ausgetretenen Haupteingang nehmen.
Rizal hat seinen Wilhelm Tell übrigens nicht mehr auf der Bühne erlebt. «Zu einer Aufführung an der Fiesta von Kalamba kam es nicht. Die Pächter und Unterpächter waren in Aufruhr, sie wehrten sich gemeinsam mit dem Verwalter gegen eine neue Steuer, stellten die Landtitel des Dominikanerordens in Frage, verstrickten sich in einen Rechtsstreit, den sie verloren. Da wurden sie vom Land vertrieben. Die ganze Familie Rizal floh nach Hongkong», schreibt Annette Hug. Gedruckt erschien Rizals Guillermo Tell erstmals 1907, elf Jahre nach seinem Tod, ebenfalls in Hongkong.