, 6. November 2022
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Expeditionen ins Klangreich

Surbers Ehrenrunde V: Christian Brühwiler programmiert seit 15 Jahren in Romanshorn den Konzertzyklus «klangreich». Crossover ist Trumpf; in der prächtigen Alten Kirche tönt zusammen, was sonst getrennt ist. Am 13. November startet der neue Zyklus.

Christian Brühwiler in der Alten Kirche Romanshorn. (Bilder: Hanes Sturzenegger)

Händelsonaten mit Maultrommel-Ostinato, Schuberts Winterreise mit Drehleier? Renaissance durchmischt mit freier Improvisation? Sephardische Liebeslieder mit Perkussion und Serpent, dem urigen Schlangeninstrument? Wer solche klangexperimentellen, Jahrhunderte und Kulturen durcheinander mischelnde Grenzgänge mag, ist in der Alten Kirche Romanshorn goldrichtig.

Übrigens auch, wer einfach alte Kirchen mag: Der schlichte Bau, in den Grundzügen romanisch und damit einer der ältesten Sakralbauten der Ostschweiz, steht privilegiert erhöht am Rand des Bodensees. Ein Ort mit Magie, erst recht, wenn wie an diesem warmen Spätsommervormittag die Sonne durchs Kirchenfenster fällt.

Hier wartet schon Christian Brühwiler, der Impresario der Konzertreihe, die unter dem Titel «klangreich» seit 15 Jahren die Alte Kirche und die Wintermonate musikalisch aufheizt. Brühwiler ist der Erfinder dieses in der Ostschweiz einzigartigen «Biotops für unschubladisierte Musik», wie es auf thurgaukultur.ch kürzlich treffend hiess.

Crossover ohne Grenzen

Zum Beispiel am 18. Dezember, im zweiten Konzert des diesjährigen klangreich-Zyklus: Da werden chilenische Volksmusik, Barocksonaten, ugandische Feldaufnahmen und Eigenkompositionen aufeinandertreffen, eine überquellende Portion Crossover von der Art, wie sie Christian Brühwiler mit Vorliebe programmiert. Der britische Trompeter Tom Arthurs hat das Projekt mit der Basler Harfenistin Giovanna Pessi entwickelt; beide kennen sich vom experimentierfreudigen Label ECM.

Brühwiler, selber als Posaunist in der Schweizer Barockszene gefragt, hat mit Pessi schon mehrfach gespielt und sie unterstützt, wie er sagt, will heissen: sie für Konzerte nach Romanshorn geholt. «Es ist nicht einfach, gute Auftrittsmöglichkeiten zu finden. Der Markt ist total übersättigt. Es gibt unglaublich viele gute Musikerinnen und Musiker, die Ausbildungen sind auf einem extrem hohen Niveau, die Konkurrenz ist gross.»

So wäre es zum Beispiel ein Leichtes, Konzertreihen mit spezialisierten Barockensembles auf die Beine zu stellen. Aber was alle machen könnten, interessiert Brühwiler nicht. «Ich habe mich für den unkonventionellen Weg entschieden.» Das heisst, Stile und Stimmen, Epochen und Musikerpersönlichkeiten zusammenzubringen, die nicht auf Anhieb zusammengehören. Grenzen und Wahlverwandtschaften zwischen Alter und Neuer Musik, zwischen Komposition und freier Improvisation auszuloten.

So haben auch ein Bernd Alois Zimmermann, ein John Cage und andere grosse Namen der klassischen Moderne in den Programmen von «klangreich» Platz, eingebettet in andere Werke, in spannende Kontexte gebracht und damit fürs Publikum zugänglich. «Das ist wie beim Kochen», sagt Brühwiler, selber ein passionierter Koch mit grossem Gemüsegarten: «Immer nur Süssspeisen wären langweilig, ab und zu muss etwas Zähes oder Bitteres drin sein.»

«Fair pay» im Konzertbetrieb

Trägerin dieses nahrhaften Menüs ist die Gesellschaft für Literatur, Musik und Kunst GLM Romanshorn. Der Start der Reihe 2007 war, so Brühwiler, ein Stück weit eine «Flucht nach vorn» angesichts schwindender Publikumszahlen, ein Versuch, «sich auf die Äste hinauszuwagen». Er sagt es mit Selbstironie: «Wenn die Leute schon nicht kommen, sollen sie wenigstens einen Grund gehabt haben, nicht zu kommen.» Es kam dann aber anders, die musikalischen Fusionen stiessen auf Anklang, wohl gerade weil sie nicht einfach den Publikumsgeschmack befriedigen wollten, sondern eine unverwechselbare Handschrift trugen, vermutet Brühwiler.

Heute habe «klangreich» ein solides Stammpublikum aus der ganzen Region Oberthurgau, je nach Konzert zudem ausschweifend bis Kreuzlingen, Konstanz oder St.Gallen. Kanton und Gemeinde zahlen einen jährlichen Beitrag, die GLM trägt ihren Teil bei, rund ein Drittel der Ausgaben finanziert sich aus den Ticketeinnahmen. Korrekte Gagen zu zahlen, ist für den Veranstalter eine Selbstverständlichkeit und macht es für Musikerinnen und Musiker attraktiv, in der prächtigen Alten Kirche spielen zu können. «Superstars» könne er sich so zwar nicht leisten, aber: «Superstars interessieren mich nicht.»

Was ihn hingegen interessieren würde, wäre ein Label vergleichbar «fair trade» oder «fair fashion» auch für den Kultursektor – mit dem Ziel, skandalöse Gagen- und Arbeitsbedingungen transparent zu machen. Brühwiler verweist auf entsprechende Bestrebungen, mit Schwerpunkt in Österreich, unter dem Titel «art but fair». Der jüngste Beitrag auf der Website artbutfair.org heisst: «Berufsmusik als Armutsfalle.»

Volks- und Kunstmusik Hand in Hand

Christian Brühwiler hat als Barockposaunist mit den einschlägigen Ensembles in der Schweiz gespielt, mit Capriccio in Basel, mit Ruedi Lutz in St.Gallen, mit dem Ensemble La fontaine oder der Dommusik St.Gallen. Daneben war er Lehrer und Hausmann, heute ist er in Pension und denkt gelegentlich ans Aufhören mit seinem Zyklus und dem damit verbundenen Organisations-Drumunddran: «Es ist schön, aber auch belastend.»

Allerdings sei das Programm, wie es heute aussieht, nicht einfach zu kopieren. Es ist sein Netzwerk, das die Konzerte trägt, die persönlichen Beziehungen, die Freundschaften. Die Namen fallen im Gespräch wie reife Früchte – Geigerin Maya Homburger, Bassist Barry Guy, das Duo Paul Giger und Marie-Luise Dähler, der norwegische Jazzpianist Christian Wallumrod, die Sängerin Maria Mazzotta, Andrea Piccioni, der italienische Perkussionist, der mit seinem Tamburello-Quartett das Publikum hingerissen hat, die ukrainischen Hudaki-Strassenmusiker, die abgefahrenen Musiker von Supersonus um den Nyckelharpa-Virtuosen Marco Ambrosini und und und…

Am 13. November ist ein anderer prominenter Name zu Gast: Florian Favre, der vielseitige Fribourger Jazzpianist, bringt in seinem der Coronapause zu verdankenden Programm mit dem Titel identitâ Westschweizer Vokaltradition eines Abbé Bovet und anderer Komponisten auf dem Klavier neu und ungewohnt zum Klingen.

Nächste Konzerte:

identitâ, Florian Favre, Klavier,
13. November 17 Uhr

silent ways, Tom Arthurs, Trompete, Giovanna Pessi, Barockharfe,
18. Dezember, 17 Uhr

Alte Kirche Romanshorn

klangreich.ch

«klangreich» lebe von Zufällen, von Dominoeffekten, von schicksalshaften Begegnungen oder Entdeckungen. Wie jener des katalanischen Pianisten Marco Mezquida, den Christian Brühwiler als Begleiter auf einer CD der argentinischen Sängerin Rocio Faks erstmals hörte, ihn zu einem Soloabend einlud und jetzt diesen Winter gleich in zwei Programmen wieder nach Romanshorn bringt. Oder wie die Kollaboration des Alte-Musik-Ensembles Chant 1450 um den Rapperswiler Tenor Daniel Manhart mit dem Stimmvirtuosen Christian Zehnder, ein Konzert, das wegen der Pandemie mehrfach verschoben werden musste und jetzt für den Februar 2023 angekündigt ist.

E oder U?

Ist das jetzt E- oder U-Musik, wenn Jazz mit südamerikanischer Folklore oder Renaissance mit Improvisation zusammenprallt? Wenn Schubert zur Drehleier singt? Macht die althergebrachte Unterscheidung zwischen Volks- und Kunstmusik überhaupt noch Sinn für einen wie Brühwiler, der am liebsten über alle Grenzen hinweg das Verbindende und Inspirierende sucht?

«E», sagt Brühwiler, sei sein Klangreich-Programm durchaus: «vollkommen elitär» nämlich. «Was man hier zu hören bekommt, sind Musiksprachen mit differenziertem Code, über den man als Zuhörer nicht selbstverständlich verfügt und für die man ein gewisses Mass an Hörerfahrung braucht. Ähnlich wie in der zeitgenössischen Literatur, die auch mit Anspielungen, Kontextualisierungen, Doppelbödigkeiten arbeitet.» Crossover-Programme seien in diesem Sinn anspruchsvoll – andrerseits gerade durch das Live-Erlebnis aber auch unmittelbar zugänglich und geeignet, dem Publikum die Ohren zu öffnen.

Eine Lanze für die stillen Töne

Von Schubladen wie E und U hält Brühwiler zwar nichts – aber auch nicht von der wohlfeilen Redewendung, Musik sei eine alle Grenzen überwindende Universalsprache. «Eigentlich steckt in der Musik, wie sie im heutigen Kulturbetrieb praktiziert wird, viel mehr Trennendes als Verbindendes. Für jeden Stil, jede Sparte gibt es Nischen, jede Kultur und Subkultur hat das auf sie zugeschnittene Angebot.» In Brühwilers Klang-Reich gilt das nicht: Hier sind die Schubladen offen, die Stile bunt durcheinandergeschüttelt – mit Ausnahme der Rockmusik, die im intimen Unplugged-Raum der Alten Kirche nach Brühwilers Überzeugung am falschen Platz wäre.

In diesem Raum, der schon beim blossen Sprechen wunderbar hallt und widerhallt, entfalteten gerade die leisen Töne, die Klänge an der Grenze zur Hörschwelle eine grossartige Präsenz, schreibt Christian Brühwiler im Programmheft zum Zyklus 2022/23. «In a silent way» heisst das diesjährige Motto, programmatisch in doppeltem Sinn. Es spiele zum einen auf den Titel des allerersten Fusion-Albums von Miles Davis an. Zum andern könne es aber auch als eine Art Leitmotiv gelten für die Konzertreihe überhaupt, «für den unspektakulären Weg, die Suche auf weniger bekannten und abseitigeren Pfaden».

Ein Glück für Musikliebhaber:innen, die auch auf solchen Pfaden unterwegs sind: Romanshorns Alte Kirche liegt nicht abseits, sondern mittendrin. Und die reichen Klänge, die dort im Monatsrhythmus ertönen, haben das Zeug dazu, die Ostschweiz ein Stück grösser zu machen, als sie ist. Christian Brühwiler sagt es so: «Vielleicht nisten wir uns in der Provinz häufig gemütlich und selbstgenügsam ein, und wenn wir versehentlich die Türe einen Spalt weit offen lassen, steht plötzlich die Welt in der Stube.»

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.

Surbers Ehrenrunde ist gewidmet Barbara Schlumpf, Urs Graf, Christian Brühwiler, Pamela Dürr und Silke kleine Kalvelage und ihren Wirkungsorten: dem spielfreudigen Linthgebiet, der wunderbaren Druckwerkstatt in Speicher, dem grenzüberschreitenden Konzertzyklus in Romanshorn, der integrierenden Theaterarbeit in St.Gallen und dem nachhaltigen Stadtufer-Aufbruch in Lichtensteig. Gewidmet aber auch allen anderen, die die kulturelle Ostschweiz zum Wachsen und Blühen bringen.

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