Ein düsteres Fragment von Benjamin
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«In Europa ist Griechenland ein schlechter Schüler. Das genau ist seine Qualität. Glücklicherweise gibt es schlechte Schüler wie Griechenland, die der Komplexität gerecht werden. Die eine bestimmte deutsch-französische Normalisierung verweigern etc. Bleibt bitte schlechte Schüler, dann bleiben wir Freunde». Félix Guattari 1992
Mit diesem Zitat schliesst Maurizio Lazzarato seinen Essay über das neoliberale Leben Die Fabrik des verschuldeten Menschen aus dem Jahre 2011, worin er mit Bezug auf Nietzsches Genealogie der Moral die Allmacht der Schulden im neoliberalen Kapitalismus nachzeichnet. Auch wenn Guattari so in seiner gewohnt humorvollen Art die in der Grundschule starke Unterscheidung Streber/Rebell einführt, um mit einer gewissen Leichtigkeit auf das hässliche Schuldner/Gläubiger-Verhältnis zu reagieren, ist die Wirksamkeit von zweiterem erschreckend stark. Die Ordnung wird darin einzig der Ordnung zuliebe erhalten, die Ausrede, es gehe um Sicherheit, ist ausserordentlich schlecht. Entschuldigt sich die Legitimität der Ordnung einzig mit Verweis auf die Ordnung selbst, entpuppt sich diese Ordnung nicht nur als absurd, vielmehr zeigt sie sich als rücksichtslosen Sarkasmus.
Regelbruch wird bestraft
Wenn das Bild des rebellischen, schlechten Schülers die einfache Frage «Wozu das alles?» oder «Warum muss ich das?» suggeriert, können wir seit dem Wahlerfolg der griechischen Syriza einmal mehr beobachten, wie nur schon das Aussprechen solcher Fragen punkto Austeritätspolitik mit irrationalen Entrüstungsstürmen beantwortet wird: Aus der Feststellung «Die Griechen wollen nicht mehr derart mit uns spielen!» konstruiert man einen veritablen Sonderschüler-Antichristen, der an unseren Wertvorstellungen rüttelt, und darum mit Ultimaten und Nichtversetzung bestraft werden muss, wenn nicht mit Rauswurf. Schliesslich spielen wir ja auch nach den Regeln.
Diese Reaktion ist kein Wunder. Und es ist auch nicht erstaunlich, dass das verschuldete Griechenland gerade im deutschen Sprachraum dermassen gebasht wird. Nietzsche verweist im zweiten Abschnitt der Genealogie auf die «dämonische Zweideutigkeit» (Benjamin) des deutschen Begriffs der Schuld: stammt dieser «moralische Hauptbegriff» nicht eher vom «sehr materiellen Begriff ‹Schulden›»? Und weiter: «Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz? Ich habe es bereits verrathen: in dem Vertragsverhältniss zwischen Gläubiger und Schuldner, das so alt ist als es überhaupt ‹Rechtssubjekte› giebt und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist».
Lazzarato untersucht mit Marx und Nietzsche die Gegenwart – die Machtbeziehungen zwischen Gläubiger und Schuldner –, welche mit dem Merkel’schen Austeritätsprogramm offensichtlich ein staatspolitisches Paradigma geworden sind, jedoch letzten Endes in zumindest gleich bedrohlichem Masse eines der Subjektivität geworden sind: Wer arbeitslos ist, ist am schuldigsten von allen. Er oder sie steht frei nach Agamben als «nacktes Leben» dem Staat gegenüber, eine gewaltsame Reduktion bedingt durch die moralisierte Figur des durch Schuld(-en) geknechteten Menschen, die dessen Ausbeutung in völlig neuen Dimensionen ermöglicht.
Allerdings ist Maurizio Lazzarato keineswegs der Erste, der Nietzsche und Marx gemeinsam liest. Dies hatte bei den französischen Poststrukturalisten eine grosse Tradition, wobei sich Michel Foucault auch schon eher scherzhaft als «nietzscheanischen Kommunisten» bezeichnete. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass sich nach dem Tod seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche 1935 und dem Untergang des dritten Reiches 1945 neue Möglichkeiten zur Nietzscheforschung und Interpretation ergaben; so erschien 1959 die «Schlechta-Ausgabe» und ab Mitte der 60er-Jahre die kritische Studienausgabe von Colli/Montinari, welche in der französischen Übersetzung von Michel Foucault und Gilles Deleuze herausgegeben wurde. In einer stark von diversen Marxismen geprägten Zeit war es notwendig, sich insbesondere von dogmatischen Marx-Auslegungen zu distanzieren, wobei Foucault und Deleuze aber auch gegen den von Jean-Paul Sartre geprägten existenzialistischen Marxismus rebellierten. Dabei entstanden neue (nietzscheanisch inspirierte) Konzeptionen von «Macht», «Regierung» und «Subjekten», und schlussendlich ein fruchtbarer Boden für neue Analysen und Theorien beispielsweise eines Antonio Negri, Étienne Balibar oder eben Maurizio Lazzarato.
Christentum als Kapitalismus
Gewissermassen sensationell ist allerdings das Fragment Kapitalismus als Religion von Walter Benjamin aus dem Jahre 1921, wobei dieser erst später seine eigene Marxinterpretation wagen wird, und diesen bis dahin kaum gelesen hatte, wie Sami Khatib weiss. Darin stellt er fest, dass das «Christentum zur Reformationszeit […] nicht das Aufkommen des Kapitalismus begünstigt [hat], sondern […] sich in den Kapitalismus umgewandelt» hat. Die Parallelen zwischen der christlichen Idee der Sühne und den disziplinarischen Pflichten eines Schuldners sind ohnehin nicht von der Hand zu weisen. Jeder weiss, dass Schulden nie bezahlt werden sollen, diese sind blosse Machttechnik, den Schuldner zu fortwährenden Glaubensbekenntnissen an die Spielregeln zu nötigen. Die Schuldenkrise ist also auch keine «verrückt gewordene Spekulation», wie Lazzarato in der Einleitung seines Essays festhält, sondern der Versuch, einen bereits kranken Kapitalismus am Leben zu erhalten.
Die Verschuldung eines Staates lässt den Kapitalismus erst Fuss fassen, so Khatib (wobei es wohl nicht so sehr ein «Fuss fassen» einer abstrakten Macht ist, eher schon ist ebendies «Kapitalismus»). Der Widerstand ist primär, könnte man mit Foucault/Deleuze entgegenhalten. Ein Schuldenschnitt ist innerhalb der kapitalistischen Logik gar denkbar, aber nur wenn das Spiel wieder von vorne beginnen kann, und die Spielregeln demnach weiter eingehalten werden.
Griechenland muss dieser Logik nach um jeden Preis weiter dem diabolischen Schuld(en)- Paradigma entsprechen. Lohnt sich das nicht mehr, müsste man sich über andere soziale Beziehungen Gedanken machen, z.B. ethischer Art, wie man mit Benjamin sagen könnte: Als Beispiel erwähnt Khatib zwar regional eingeschränkte, aber nicht minder mögliche Versuche der Zapatisten im Süden Mexikos. Eine solche Zukunft zu denken bedeutet Foucault folgend Kritik, und frei nach Baumgarten, Ästhetik zu betreiben.
Literatur dazu:
- Khatib, Sami: Teleologie ohne Endzweck, Tectum Verlag Marburg 2014
- Lazzarato, Maurizio: Die Fabrik des verschuldeten Menschen, B-Books Berlin 2012
- Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften Band VI, Suhrkamp Frankfurt a.M. 1991 [hier: S. 100-103 & 690f]
- Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral [hier: Abhandlung 2, Aphorismus 4]
Und wem hierbei die fehlenden Denkerinnen fehlen, dem/der sei ergänzend und erweiternd die Politologin Isabell Lorey ans Herz gelegt, insbesondere mit ihrem Werk Die Regierung des Prekären, erschienen bei Turia&Kant, Wien 2012, in welchem das (vermehrt prekäre) neoliberale Leben mit einem anderen, ebenso wichtigen Fokus analysiert wird.