, 13. Juli 2022
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Der Kinosommer

Filme im Rund der Lokremise, im Garten des Kapuzinerklosters in Appenzell oder mit dem Solarkino quer durch die Ostschweiz – ein Blick in die Saison des Freiluftkinos.

Es ist kalt in Lappland: Ariel von Aki Kaurismäki im Kinok-Sommerprogramm. (Bilder: pd)

Sommer. Es wird dunkel. Ein Projektor beginnt zu rattern. Der Vorspann eines Films flimmert auf der Leinwand. Die Vorstellung beginnt. So funktioniert Openair-Kino. Schon immer.

Es gibt diese Erinnerungen an die Freiluft-Vorstellungen in den italienischen Badeorten an der Adria. Jeweils für ein paar Tage gastierte dort ein Wanderkino. Wurden die Vorstellungen über scheppernde Lautsprecher aus einem die Strassen abfahrenden Auto angekündigt? Man weiss es nicht mehr genau. Jedenfalls hingen plötzlich überall kleine Plakate mit dem Programm. Eine Wiese wurde mit Plachen abgesperrt, ein Kassahäuschen aufgestellt. Feriengäste und einheimische Familien nahmen auf langen Holzbänken vor der Leinwand Platz. Dann begann die Vorführung. Und es lief – Apocalypse Now.

Zugegeben, dies war eine Ausnahme und blieb wohl nur deshalb im Gedächtnis haften. Meistens wurden einfach italienische Komödien gezeigt. Einer dieser Filme, der Mitte der 1960-er Jahre bestimmt zum Programm dieser herumreisenden Lichtspieltheater gehörte, ist Il Sorpasso, ein Roadmovie mit dem Mitte Juni verstorbenen Jean-Louis Trintignant in einer der beiden Hauptrollen. Das Kinok zeigt den Film am 4. August im Rund der St.Galler Lokremise.

Längst hat sich das Openair-Ferienkino auch in der Ostschweiz mit den doch eher unbeständigen Sommern etabliert. Viel hat sich seit den Anfangszeiten nicht geändert. Höchstens, dass die Bilder auf der Leinwand kaum mehr flimmern und hinter dem Publikum auf den mehr oder weniger bequemen Sitzen immer seltener etwas rattert. Von den neuen digitalen Vorführapparaten ist vielleicht noch das leise Surren der Festplatten zu hören. Die Kinovorstellungen im Freien sind zu einem der wenigen verlässlichen Kulturangebote in den doch ziemlich veranstaltungslosen St.Galler Sommermonaten geworden.

Unterwegs mit der Göttin

Wie immer hat das Kinok für sein Openair-Programm ein verbindendes Thema gefunden. «On the Road» steht dieses Mal über einer Liste mit 15 Filmen, die in der Lokremise gezeigt werden. Easy Rider? Thelma & Louise? Sind beide gebucht. Dazu auch Priscila, Queen of the Desert von 1994. Aus dem Stoff ist später ein Musical entstanden, das 2019 auch am Theater St.Gallen gezeigt wurde.

Angekündigt sind aber auch weniger bekannte Filme. The Goddess of 1967 der Regisseurin Clara Law aus Hongkong beispielsweise. Die Geschichte beginnt in Japan. Ein junger Mann tippt in seinen Computer: «I want to buy a goddess». Gemeint ist ein Citroen DS, in Frankreich auch «déesse» genannt oder übersetzt eben «Göttin». Halt ein sehr schönes Auto oder besser eine Limousine, gebaut 1967. Im Film kommt ein Zitat des Philosophen Roland Barthes vor, der dieses Citroen-Modell unter anderem als «das genaue Äquivalent der grossen gotischen Kathedrale» beschrieb.

Der Film startet mit ein paar ziemlich dramatischen Verwicklungen, die aber eher nebenbei abgehandelt werden. Offensichtlich geht es vor allem darum, ein ungewöhnliches Paar auf die filmische Reise zu schicken: Da ist zum einen der Autofetischist und Käufer des Wagens, gespielt von Rikiya Kurokawa. Ihn begleitet eine blinde junge Frau, verkörpert von Rose Byrne, die dafür im Jahr 2000 in Venedig den Preis als beste Schauspielerin erhielt.

Es startet eine lange Fahrt quer durch Australien von Sydney nach Lightening Ridge. Der Oldtimer-Citroen ist natürlich wichtig, die Kamera hat sichtlich Freude am Design, aber die Filmemacherin interessiert sich vor allem für die sich entwickelnde Beziehung zwischen den beiden Reisenden.

Wer in einem Film «on the road» ist, befindet sich oft auf der Flucht. Das gilt auch für Taisto Kasurinen (Turo Pajala) in Ariel von Aki Kaurismäki, dem mittleren Teil der in den 80er-Jahren gedrehten Proletarier-Filmtrilogie. Als ein Bergwerks-Unternehmen in Lappland seinen Betrieb einstellt, verliert auch Taisto seine Stelle. Andere Jobs gibt es in der Gegend nicht. Die Lage ist so hoffnungslos, dass sich sein Vater nach einem letzten Schluck Bier erschiesst. Nicht ohne allerdings zuvor Taisto einen Autoschlüssel als einzige Erbschaft auf den Tisch gelegt zu haben. Für diese dramatischen Entwicklungen benötigt Kaurismäki nicht ganz vier Filmminuten. Ähnlich lakonisch geht es weiter.

Der Autoschlüssel gehört zu einem weissen Cadillac, der mit seinen Heckflossen aussieht wie ein Boot. Es ist kalt – Lappland eben –, aber das Verdeck lässt sich nicht schliessen. Taisto fährt also im Cabrio nach Helsinki. Dort läuft es für ihn nicht besser. Immerhin lernt er Irmeli (Susanna Haavisto) kennen. Und bald hat er mit Mikkonen (Matti Pellonpää) einen Freund, dem es noch schlechter geht als ihm selber.

Gegen Taisto hat sich vieles verschworen, das andauernde Pech erträgt er stoisch. Aufbegehren hat keinen Sinn. Kaurismäki lässt seine Darstellerinnen und Darsteller handeln – nicht reden. Die Dialoge im Film haben wahrscheinlich auf zwei A4-Seiten Platz. Ein Beispiel dafür ist die zentrale Beziehungsszene:

Irmeli: «Wirst du mich am Morgen verlassen?»

Taisto: «Nein. Wir bleiben für immer zusammen.»

Irmeli: «Gut.»

Schnitt.

Wie immer bei Aki Kaurismäki nimmt die von einem verzweifelten Humor durchzogene Handlung ein vom Himmel gefallenes glückliches Ende. Dazu wird im Hintergrund die finnische Version von Over the Rainbow aus The Wizard of Oz eingespielt. Mit dem Schiff «Ariel» geht es nach Mexiko. Nur Mikkonen mit dem traurigen Schnauz schafft es nicht. «Begrabt mein Herz auf der Müllhalde», ordnet er noch an.

Verliebt in scharfe Kurven

Vielleicht ähnlich viel Verzweiflung, nur überdeckt durch Übermut und grossmäuliges Getue, gibt es im schon erwähnten Film Il Sorpasso aus dem Jahr 1962. Regisseur Dino Risi lässt den selbstsicheren Bruno (Vittorio Gassman) und den introvertierten Jus-Studenten Roberto (Jean-Louis Trintignant) im Lancia Aurelia von Rom entlang der Küste Richtung Toscana fahren. Das Auto ist natürlich ein Cabriolet, ausgerüstet mit einer Musikanlage, die Singles abspielen kann.

Die Tragikomödie ist hervorragend besetzt, die leichte Inszenierung täuscht etwas über den versteckten Tiefgang des Films hinweg. Es gibt eine Reihe von Gags, die Dialoge sind voller Anspielungen, unter anderem auf Risis Regiekollegen Michelangelo Antonioni und dessen Film L’Eclisse (Liebe 1962). Bruno war im Kino und hat ihn gesehen – oder auch nicht: «Had a nice Nap. Great Director, Antonioni», heisst es in der englischsprachigen Untertitelung. Deutscher Verleihtitel-Humor verwandelte übrigens Il Sorpasso («Das Überholen») in Verliebt in scharfe Kurven.

Das Kinok war in seiner langen Pionierphase auch immer wieder ein reisendes Lichtspieltheater. Einmal zog die Crew im Sommer durch die Dörfer bis ins Toggenburg. Meistens wurden aber neue ungewöhnliche Plätze für Filmvorführungen in der Stadt entdeckt. Diese Rolle hat nun teilweise das Solarkino übernommen. Es gastiert an drei Orten in St.Gallen. Nicht nur auf dem Gallusplatz und auf der Kreuzbleiche, sondern bereits zum zweiten Mal auch an einem neuen Kulturort, dem Areal Bach in St.Finden. Weitere Ziele sind Gossau, Rorschach, Schwellbrunn, St.Margrethen und Wil.

Stürm in St.Margrethen und Rocketman in Appenzell

Seit dem Start 2012 werden vor den Vorstellungen zuerst die Solarpanels mit dem Akku aufgebaut, der dann den Strom für die Filmprojektion am Abend liefert. Gezeigt werden Filme mit einer eher positiven Botschaft oder solche mit Umweltthemen. Immer dabei ist mindestens ein Dokumentarfilm. Auf dem Gallusplatz läuft etwa Die Welt ist gross und Rettung lauert überall. Die Handlung basiert auf dem gleichnamigen Roman von Ilija Trojanow. 2008 gab es dafür den Publikumspreis am Zurich Filmfestival. Es geht um die Beziehung zwischen Grossvater und Enkel, um Auswanderung und um eine Reise nach Bulgarien.

Es muss aber vielleicht nicht unbedingt eine Vorstellung in der Stadt sein. Ob man den Film über Walter Stürm tatsächlich sehen muss, ist umstritten. Am 15. Juli zeigt jedenfalls das Solarkino im Strandbad Bruggerhorn in St.Margrethen Stürm: Bis wir tot sind oder frei.

Natürlich gibt es nicht nur die grossen Veranstalter, die ein Freiluftkino organisieren. Ein Beispiel für viele sind die Appenzeller Filmnächte mit zwei Vorstellungen Mitte August: Im Garten des Kapuzinerklosters in Appenzell läuft am 12. August Yesterday, die Komödie über eine Welt, in der es die Beatles nie gab. Am 13. August folgt Rocketman mit der Verfilmung der Biografie von Elton John. Die Festwirtschaft ist ab 19 Uhr geöffnet.

Ebenfalls zu den traditionellen Sommerangeboten gehören die Freiluftaufführungen in Arbon und Kreuzlingen mit ihren jeweils im Bodensee aufgespannten Leinwänden. Dieses Jahr wird das Programm als «Coop Openair Cinema» mit Spielorten in der ganzen Schweiz beworben.

Das Programm stützt sich vor allem auf Filme ab, die in den letzten Monaten im Kino zu sehen waren: Dune, Top Gun: Maverick und Downton Abbey II sind dabei, wie auch der neueste Bond. Aber nicht nur: Am 2. August werden in Arbon alle fünf Folgen von Tschugger auf der grossen Leinwand gezeigt. Und am 14. August läuft ebenfalls in Arbon der Gewinner des Publikumspreises der Solothurner Filmtage Presque, in dem eine ungewöhnliche Reise im Leichenwagen nach Südfrankreich erzählt wird.

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