«Das Publikum will sich ins Spiel bringen»
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In Shakespeares Hamlet, der am 23. September Premiere hatte, geht es ständig um den Tod. Ich nehme an, Sie sind ein dem Leben zugewandter Mensch – was macht man mit einem solchen Stück, was macht ein solches Stück mit einem?
Es zwingt auf jeden Fall dazu, sich den «letzten Fragen» zu stellen. Der Tod und unser Umgang damit, das ist ein Thema, das stark an die Ränder gedrängt ist in unserer Gesellschaft. Hamlet hingegen stellt sich selber diese Fragen permanent. Das hat schon etwas Aufreibendes, auch für die Schauspielerinnen und Schauspieler. Ein solcher Text frisst sich über die Wochen in einen rein. Man gibt seinem Körper und seinem Hirn täglich dieses «Futter». Klar, es bleibt ein Spiel, als Schauspieler verliert man sich nicht in der Rolle. Aber man muss eine gewisse Durchlässigkeit zulassen, um eine Figur auf der Bühne zeigen zu können. Zum Glück hat es dann auch wieder komische Partien im Stück. Es ist nicht nur eine Tragödie.
Und Ihre politische Deutung des Hamlet?
Das Politische legen wir wie eine Grossmetapher über das ganze Stück. Mich interessieren die Gegenpole: auf der einen Seite Hamlet als differenziert denkender Mensch – auf der anderen Seite Fortinbras, der dreinschlägt, der Mann der Tat. Hamlet wird durch seine Reflexionen immer stärker ins Nichthandeln hineingedrängt. Und richtet gerade dadurch ein furchtbares Massaker an. Darin sehe ich Bezüge zu heute, die mich interessieren. Unser demokratisches System verpflichtet uns dazu, alle möglichen Fragen auszudiskutieren und aus dieser Auseinandersetzung heraus ins Handeln zu kommen – oder eben auch nicht.
Handeln oder Nicht-Handeln – das also ist die Frage?
Genauer noch: Wie sollen wir handeln? Und wie differenziert schauen wir als Gesellschaft die drängenden Themen an? Was muss man verteidigen? Zu welchem Preis werden Werte verteidigt? Und wo werden Werte beschnitten? Wir haben diese Fragen weitergesponnen in die Kulturpolitik hinein und auch bezogen auf die Region, weil wir sagen: Wenn wir hier in St.Gallen als Neuankömmlinge Theater machen, dann soll diese Arbeit mit dem Ort zu tun haben. Natürlich kann man Hamlet immer auf die ganze Weltsituation beziehen. Aber das Stück interessiert mich auch im Blick auf die Realität hier und heute. (Premierenbesprechung: hier)
Wird Hamlet nicht platt, wenn man ihn tagespolitisch liest?
Eine bloss tagespolitische Deutung macht keinen Sinn. Es braucht den grossen Bogen. Das Politische verbindet sich denn auch mit dem anderen grossen Thema, dem Tod. Wir legen diese zwei Spuren übereinander. Platt soll das gerade nicht sein. Das ist die Kultur, die ich verteidigenswert finde: differenziert zu bleiben, auch wo es kompliziert wird. Hamlet scheitert natürlich an dieser Anforderung. Er treibt in die Handlungslosigkeit hinein aus Überforderung. Das ist nach meiner Überzeugung eine Situation, mit der sich angesicht der komplexen Grossfragen viele Menschen heute identifizieren können. Hamlet ist eine sehr suchende Figur, die mit den Fragen kämpft. Theater kann ja eher Fragen stellen als konkrete Antworten liefern.
Ist dies das Theater, das man von Ihnen erwarten kann?
Wenn es auch floskelhaft tönt: Theater ist immer politisch, weil es um das Menschsein geht. Ich bin aber gerne fragend unterwegs und weniger agitatorisch. Ich mag es, zusammen mit dem Ensemble Stoffe nochmal und nochmal zu drehen. Kraftvolle Antworten können manchmal gut sein, aber ich habe es gern, auch als Zuschauerin, wenn ich mitdenkend gefordert bin. Theater ist für mich eine Reise. Ich habe einen Ansatz, aber dann gehe ich los mit den Leuten, mit denen ich zusammenarbeite. Entsprechend verändert sich die Inszenierung auf dem gemeinsamen Weg. Den Prozess offen zu belassen und trotzdem den Fokus zu behalten, das ist die Herausforderung. In St.Gallen ist das Ensemble zudem neu, wir kennen uns noch nicht so gut. Ich versuche immer, das Ensemble stark einzubeziehen. Ich bin nicht diejenige, die alles schon weiss und vorgibt.
Der Hamlet von Jonas Knecht, Teil eins der Eröffnungstrilogie Hotspot Hamlet, hat in der Lokremise den Stoff dekonstruiert, wie dies vielerorts gemacht wird mit gestandenen Theatertexten. Wie stehen sie zu solchen Trends?
Wir versuchen gerade mit dem dreifachen Hamlet-Auftakt zu zeigen, mit vielfältig man Stoffe anpacken kann. Es ist ein Kaleidoskop. Wir stehen nicht für einen bestimmten Zugriff, uns interessieren unterschiedliche Spielweisen. Meine Spielweise verändert sich selbst innerhalb des Hamlet-Abends allmählich – von einer eher naturalistischen zu einer abstrakteren Art. Das hat mit dem inhaltlichen Bogen des Stücks zu tun, das mehr und mehr ins Nichts führt. Die eigene Handschrift setze ich gern immer wieder neuen Stücken aus, nächsten Frühling etwa in St.Gallen mit Einige Nachrichten an das All von Wolfram Lotz. Da ist schon im Stück die Frage angelegt, wie Themen heute auf dem Theater verhandelt werden können.
Hamlet_Gross: nächste Vorstellung Freitag, 7. Oktober, 19.30 Uhr, Theater St.Gallen
Hamlet_Lok: letzte Vorstellung Sonntag, 2. Oktober, 20 Uhr, Lokremise St.Gallen
Container-Taufe: Donnerstag, 6. Oktober, 18.30 Uhr, Marktplatz St.Gallen
Ihr Spielplan ist sehr zeitgenössisch.
Aber ich denke, dass auch Zuschauer, die sich konventionellere Spielarten gewöhnt sind, gut andocken können. Wir machen Theater nicht für uns selber. Wir stellen uns natürlich den Stoffen, aber wir wollen das Publikum erreichen, ohne uns bei ihm anzubiedern. Das ist entscheidend gerade in einer Stadt wie St.Gallen, die ja keine sieben Theater hat. Es ist ein Austausch. Man kann viel erreichen, wie man zum Beispiel am Theater Chur sieht, das mit einem progressiven Programm sein Publikum findet. Eine solche Entwicklung hat ja auch schon unter Tim Kramer stattgefunden.
In Deutschland ist eine Debatte um die Überbelastung und die schlechten Löhne der Schauspielerinnen und Schauspieler im Gang. Es hat sich ein Ensemble-Netzwerk gegründet. Wie ist die Situation in St.Gallen?
Die Diskussion findet auch hier statt. Ich bin erst am Start, ich kann die Bedingungen noch nicht richtig beurteilen, aber die Diskussion ist unbedingt nötig. Es gibt viele ausbeuterische Strukturen. Als Schauspieler muss man zum Beispiel immer verfügbar sein, man darf sich nicht mehr als eine gewisse Kilometerzahl entfernen, ohne sich abzumelden. Die Löhne sind tief, die Anfängergagen zum Teil katastrophal – St.Gallen scheint allerdings nicht schlecht dazustehen, auch in Relation zu den Lebenskosten in der Stadt, wie eine Erhebung des Bühnenkünstlerverbands im Sommer ergeben hat.
Und der Spardruck?
Der Spardruck wird vielerorts eins zu eins nach unten weitergegeben, an die eigenen Leute. Darum ist die Netzwerk-Arbeit auch so wichtig. Tatsache ist: Es wird in immer kürzeren Probezeiten, mit immer weniger Leuten und weniger Geld immer mehr produziert. Der Premierendruck ist hoch. Das hat sich extrem verändert, seit ich Theater mache.
Es wird mit zu wenig Geld zu viel gemacht?
Ja, das ist so.
Das St.Galler Schauspiel macht auch viel – es bespielt ab 6. Oktober zusätzlich einen Container in der Stadt.
Der Container eröffnet die Möglichkeit, direkteren Kontakt zwischen Theater und Zuschauern zu finden. Es gibt viele Ideen für das Format, und es ermöglicht es dem Publikum, mehr Einfluss zu nehmen. Dieses Bedürfnis spüre ich stark: Das Publikum will sich ins Spiel bringen. Die Grenze zwischen Bühne und Publikum soll durchlässiger werden.
Barbara-David Brüesch, 1975, ist seit dieser Spielzeit Hausregisseurin am Theater St.Gallen. Am 23. September hatte ihre «Hamlet»-Inszenierung auf der grossen Bühne Premiere. Das Gespräch wurde kurz vor der Premiere geführt. Es erschien im Oktoberheft von Saiten.
Bild: Tine Edel