Die Behauptung heisst: Auf dem Güterbahnhofareal steht in ein paar Jahren ein Haus für die freie Szene. Jenes Kulturhaus für alle, das der Stadt seit Jahrzehnten fehlt, das immer wieder gefordert wurde und das seit 2019 auch im Kulturkonzept der Stadt als Ziel verankert ist. Rund um das kostengünstig erstellte Haus gibt es Ateliers und Läden, werden Wohnungen gebaut, entstehen Gärten und Grünflächen. Schritt für Schritt, niederschwellig, kommt St.Gallen zu einem neuen, zentrumsnahen, ideal ÖV-erschlossenen, kleinräumig-grossstädtischen Quartier, das Massstäbe setzt in Sachen Nachhaltigkeit, kooperativer Entwicklung, Durchmischung und kluger Gestaltung.
Soweit die Behauptung. Sie klingt, leider, zu schön, um wahr zu sein. Aber auch zu schön, um sie gleich in die Ecke zu versorgen, wo die nie realisierten Stadtträume verstauben. Drum ein paar Argumente. Und Nachfragen bei Güterbahnhof-Expert:innen.
Argument 1: Es gibt keinen besseren Ort
Im Herbst 2016 hat Saiten zum ersten Mal über die «Lattich» getaufte Zwischennutzung am Güterbahnhof geschrieben – und seither immer wieder, mit guten Gründen: Der Lattich ist, so einige der Umschreibungen, eine «frischfröhliche» Sache, ein «roher Ort für das kreative St.Gallen», ein «urbanes Filetstück», eine «Wucherung» oder «ein Fantasiefeld für die Region» – der letzte Begriff stammt von Rolf Geiger, damals Geschäftsführer der Regio-Organisation, der Trägerin der ersten Lattich-Entwicklung.
Für die Initiant:innen war klar: Hier ist die Chance, von unten etwas entstehen zu lassen. Von oben kam der Autobahnanschluss, der über allen Projekten als Damoklesschwert schwebte – der aber auch sein Gutes hatte, wie Geiger im Saiten-Interview 2019 zur Eröffnung des auffällig gelben Lattich-Modulbaus sagte: «Ohne die Autobahn-Pläne hätte ein solches Projekt an einem so perfekten Standort gar nie entstehen können. Es ist ein Glücksfall für die Stadt und die Region, dass die Diskussion um den Anschluss das Areal freispielt für eine Zwischennutzung.» Geigers Appell vor fünf Jahren: «Lasst uns diese Fläche mit dem kreativen Potential von vielen in Verbindung bringen, dann entsteht etwas Inspirierendes für die ganze Stadt!»
Heute ist Rolf Geiger als Leiter Business Development Ostschweiz bei der Immobilienfirma Halter AG tätig, aber als Co-Präsident des Lattich-Vereins weiterhin am Güterbahnhof engagiert – und einigermassen desillusioniert. «Das Umfeld am Güterbahnhof ist unwirtlich», sagt er. Das liegt in erster Linie an der Kaskade von Einsprachen, die jeden Entwicklungsschritt auf dem Areal begleiten, verzögern, verhindern. Saiten hat im Mai 2024 ausführlich über die Schwierigkeiten mit «Herrn K.» und «Herrn R.» berichtet, den beiden notorischen Einsprechern im «Blockierquartier», so damals der Titel des Schwerpunkts. Damals drohte, nach dem Nein der städtischen Baubewilligungsbehörde zum jüngsten Erweiterungsgesuch, gar eine teilweise Zwangsräumung der Container-Anlage.
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Der neuste Stand, Januar 2025: «Räumen müssen wir vorerst nicht», sagt Rolf Geiger. So habe es das kantonale Baudepartement entschieden und den Fall an die Stadt zurückgewiesen. Der Verein kläre zur Stunde, was die möglichen nächsten Schritte sein könnten. Dass die Stadt keine Ausnahmebewilligung für das Erweiterungsgesuch erteilte und auf das Gesuch des Vereins für die Verlängerung des Ist-Zustands nicht eingetreten sei («Rechtsverweigerung» nennt es die Rekursinstanz), sei umso unverständlicher, als die Erweiterung genau das geleistet hätte, was Pioniere wie der Lattich könnten: aufzeigen, wie ein städtisches Grossareal sinnvoll bebaut und erschlossen werden soll.
Mit der Setzung weiterer Container wäre es gelungen, einen Platz zu bilden, mit Velo- und Fussgängerverbindung wäre eine Art «Flanierachse» entstanden, ein Objekt in Form eines alten Baukrans hätte den Ort markiert – hätte, wäre, könnte … Geiger wurmt es, dass all diese planerische Grundsatzarbeit offenbar keine Rolle gespielt hat. Statt sie zu würdigen, liessen sich die behördlichen Baujurist:innen seitenweise über verletzte Grenzabstände von provisorischen Containerbauten aus, welchen gar die SBB als Nachbareigentümer zustimmten. «Da fehlt der gesunde Menschenverstand.»
Argument 2: Eine Arealentwicklung ist möglich
Trotz der geschilderten «Unwirtlichkeit» sei das Gebiet aber nicht für ewig blockiert, ist Geiger überzeugt. «Eine Arealentwicklung mit professionellen Akteuren hat eine Chance.» Während sein Verein ehrenamtlich tätig sei und mit den Ressourcen finanziell und personell an seine Grenzen komme, könnten grosse Investoren einen solchen Prozess durchziehen, inklusive Einsprachen, mit denen jedes Grossprojekt rechnen müsse. Denkbar wäre für ihn, dass die Stadt federführend ist und die Entwicklung «schlank» in Gang bringt. Die bereits durchgeführte Testplanung sei eine gute Grundlage, Baufelder wären zu definieren und private Bauträger frühzeitig per Baurechtsvergabe ins Boot zu holen, ob Genossenschaften, Immobilienentwickler, Pensionskassen oder wen auch immer.
Um die 300 Wohnungen könnten so entstehen – und die könne St.Gallen, trotz vergleichsweise hohem Leerstand, brauchen. «Ich kann das Wort Leerstand nicht mehr hören», sagt Rolf Geiger. St.Gallen habe nicht zu viele, aber teils die falschen Wohnungen. Was der Stadt fehlt, seien inspirierende Nachbarschaften, sei spannender Wohnraum für unterschiedliche Budgets. An so zentraler Lage und mit einer guten Durchmischung werde St.Gallen Steuerzahler:innen anziehen können, die heute in Mörschwil oder Teufen wohnten.
Doch zu einem neuen Quartier gehörten unbedingt auch kulturelle Nutzungen. Sie hätten in den ersten Lattich-Jahren «eine unglaubliche Dynamik» bewirkt. Dank der Lattich-Module wisse man, dass auch kleinteilige Ateliers an dem Ort Sinn machten – und entgegen anfänglicher Bedenken sehr gefragt seien. Auf den «Groove» von damals, in der Lattich-Gründungszeit, hält Rolf Geiger weiterhin grosse Stücke. Diese Dynamik hätten die Einsprecher zwar erfolgreich gebremst – «aber wir wissen immerhin heute, was an dem Ort funktioniert».
Argument 3: Eine Halle gibt es schon
Walter Boos wüsste auch, was hier entstehen könnte – aber bisher konnte er den Beweis nicht antreten. Boos ist zusammen mit Céline Fuchs Initiant der geplanten Eventhalle namens Hektor im langgezogenen Güterbahnhofgebäude. Auch Hektor ist seit Jahren blockiert mit Rekursen der Einsprechergruppe um R., die ennet der Bahngleise im Otmarquartier wohnt. Hektor hat seit 2019 viel Geld investiert, in Pläne, Schalluntersuchungen, denkmalpflegerische Abklärungen, baujuristische Beratung etc. Die jüngste Einsprache der Kontrahenten liegt vor Bundesgericht. In der Zwischenzeit vermietet Hektor die Halle für Lagerzwecke.
Für Events, wie sie in der Halle stattfinden könnten, gebe es ein Riesenbedürfnis in St.Gallen, ist Boos überzeugt. Das zeigten die unzähligen Anfragen. Ein Lokal dieser Grösse und mit dieser Atmosphäre fehle schlicht. Der Clou: Dank Querfinanzierung durch kommerzielle Nutzungen wäre die Eventhalle selbsttragend und würde der Stadt keinen Franken Betriebskosten bescheren.
Umso mehr fehlt ihm ein klares Bekenntnis der Behörden zur Eventhalle. Zwar habe sich die Stadt bereit erklärt, den Umbau, wenn er denn bewilligt wird, mit einem Darlehen zu unterstützen. Und Standortförderer Samuel Zuberbühler unterstütze das Projekt seit der ersten Stunde. Aber jetzt, wo Hektor unfreiwillig auf Standby ist, vermisse er die Rückendeckung. «Wollt ihr – oder wollt ihr nicht?» Auf diese Frage hätte Hektor gern eine Antwort, sagt Walter Boos. Bei einem Nein der Stadt wüsste man zumindest Bescheid. «Mit Lob für das Herzblut, das wir investieren, ist es nicht getan.»
Argument 4: Die Oststrasse macht es vor
Herzblut, um das problematische Wort noch einmal zu bemühen, floss reichlich beim Lattichstart. «Der Ort hat ganz viele Möglichkeiten aufgetan und Leute mobilisiert», erinnert sich Ann Katrin Cooper. «Das Gefühl war: Jetzt gehts los.» 2017 hatten sie und Tobias Spori die erste Saison in der Güterbahnhof-Halle, die damals noch nicht Hektor hiess, organisiert. Geld war knapp, üppig dafür die Nachfrage. Nichts war fertig, aber gerade das stärkte die Motivation: Hier kann man gestalten, da ist ein weisses Blatt, da entsteht Neues.
Im Hinter- und Vorderkopf hätten Cooper und Spori schon damals das Ziel gehabt: Hier könnte ein Haus für die freie Szene entstehen. Allerdings erwies sich die Halle mit ihrem charakteristischen Shed-Dach als zu niedrig, und ein Umbau, wie ihn Hektor jetzt plant, lag ausserhalb der Möglichkeiten.
Und heute, nach dem Nein zum Autobahnausbau? Wäre das Haus für die Freien wieder eine Option? «Ja klar», sagt Ann Katrin Cooper. Den Güterbahnhof findet sie ein «unfassbar schönes Areal», auf dem alles stimmt: genug Platz, Zentrumsnähe, Erreichbarkeit inklusive eigener Bahn-Haltestelle, inspirierendes Umfeld. Lattich-Module, Garten, Kugl, Velowerkstatt, Gewerbe sind da, im näheren Umkreis die Militärkantine und die Kreuzbleiche, die Lokremise, die Lagerhäuser gleich um die Ecke.
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Kurzum und kühn behauptet: Da fügt sich am Westrand des Stadtzentrums ein Kultur- und Produktionspuzzle zusammen, dem nur noch ein Teilchen fehlt: das Kulturhaus für alle auf dem Güterbahnhof-Areal.
Ann Katrin Cooper betont: Auch das Knowhow wäre da. Aktuell dank der Oststrasse 25 – dort hat sich vor rund einem Monat der Pool eingemietet. Bisher als kleinerer Proberaum an der Dürrenmattstrasse betrieben, vergrössert und erweitert sich der Pool jetzt in einer ehemaligen Industriehalle, auf gegen 2000 Quadratmetern auf zwei Etagen, für Tanz, Theater, Performance, Musik und soziokulturelle Aktivitäten aller Art. Erste Proben haben stattgefunden, nach einem Umbau sollen bald auch Aufführungen für Publikum möglich werden.
Akustik, Lärmdämmung, Heizung, Barrierefreiheit, Fluchtwege, technische Infrastruktur: All das und vieles mehr war abzuklären im Hinblick auf das jetzt eingereichte Baugesuch, sagt Cooper. Aufwändig, aber lohnend, auch wenn es «nur» für eine zeitlich begrenzte Zwischennutzung geschah. «Das Nachhaltige daran ist: Wir wissen jetzt, was ein solches Gebäude können muss.» Wo immer es möglich ist, planen die jungen Architekten Luca Romano und Lisa Tiedje modulartig und damit wiederverwertbar. Dank Crowdfunding habe sich zudem das Netzwerk von Interessierten erweitert, auch Handwerker:innen sind mit im Boot.
Und der politische Wille? Der ist zumindest im Kulturkonzept 2020–28 der Stadt St.Gallen festgehalten. Dort steht: St.Gallen realisiert ein «professionell geführtes Haus für die Freien». Die Stadt hat für ein solches Haus 4 Millionen Franken eingestellt. Bisher scheiterte die Konkretisierung am Argument, es gebe in der Stadt keinen Bauplatz für ein solches Kulturhaus. Nach dem Nein zum Autobahnausbau dürfte dieses Argument jedenfalls auf dem Güterbahnhof hinfällig geworden sein.