, 28. Juli 2022
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Im Bann des Bergells

Die Biennale Bregaglia lockt das Publikum diesen Sommer ins entlegene Bergell. Das Tal ist dabei Schauplatz und Thema der Ausstellung zugleich. Dieses Wochenende erscheint eine umfangreiche Publikation dazu. Von Sebastian Ryser

Neue Kunst in alten Garagen: «The Fluttering Being» von Alexandra Navratil in Vicosoprano. (Bilder: Michel Gilgen)

Vicosoprano. Das Dorf mit knapp 450 Einwohner:innen befindet sich nicht weit von der italienischen Grenze. Während sich das Leben in neue Einfamilienhäuschen an den Rand verschoben hat, scheint die Zeit im Dorfkern stehengeblieben zu sein: Enge Gassen führen zwischen alten Steinhäusern hindurch, vorbei an ehemaligen Ställen und stattlichen Patrizierhäusern, die mit feinem Sgraffito verziert sind. Man spürt, dass Vicosoprano als Hauptort des Bergells immer schon ein wichtiger Knotenpunkt des Tals war.

Geschmückte Fassade am Haus Cad Pruz.

Das ist auch der Grund, weshalb die beiden Kuratorinnen Anna Vetsch und Bigna Guyer das Dorf als Austragungsort der diesjährigen Biennale Bregaglia gewählt haben. Sie begreifen das Tal als Ergebnis unterschiedlicher historischer, sozialer und wirtschaftlicher Prozesse. Die Verbindungen der Dörfer untereinander spielt dabei genauso eine wichtige Rolle wie die besondere geografische Lage des Bergells.

Aus diesem mehrdimensionalen Interesse speist sich ihr kuratorisches Konzept: 14 Künstler:innen haben sie eingeladen, sich mit dem Tal, seiner Geschichte und der es umgebenden Natur auseinanderzusetzen. Entstanden sind ortsspezifische Werke in unterschiedlichen Medien, die ihre Anknüpfungspunkte in der lokalen Geschichte und Geografie des Tals haben.

Brunnenbild von Zoé Cornelius.

Die zeitgenössischen Positionen wurden vom Kuratorinnen-Duo dann behutsam ins historische Ortsbild eingefügt: Video-Art flackert in einem leeren Holzschuppen, Fotografien funkeln am Grund der Dorfbrunnen, und über dem Fluss Maira leuchten farbige Lichtinstallationen. Dass die Werke dabei nicht vom pittoresken Kontext erdrückt werden, liegt am klaren Konzept von Vetsch und Guyer. Sie lassen die Werke durch ihre Platzierung mit den Räumen in Kontakt treten, ihre Geschichten aufnehmen, sie weiterdenken oder sich daran reiben.

Hexenverfolgung im Stall

Mit der Geschichte des Ortes beschäftigt sich die Basler Künstlerin Lena Maria Thüring, die das obere Geschoss eines ehemaligen Stalles bespielt. Das Thema ihrer Arbeit sind die Hexenprozesse, die im Bergell vom 16. bis ins 18. Jahrhundert stattfanden. In einer multimedialen Installation verwebt die Künstlerin Videoaufnahmen mit einem Sprechchor sowie einem eigens kreierten Duft zu einer klugen und sinnlichen Reflexion über die Marginalisierung von Frauen.

Down The River von Lena Maria Thüring.

Den Sprechchor hat Thüring mit einem Chor aus dem Bergell aufgenommen, den Duft hat sie in Kooperation mit dem in der Region ansässigen Unternehmen Soglio entwickelt. Sie zieht in ihrer Arbeit somit nicht nur Verbindungen von der bergeller Sozialgeschichte weiter zu aktuellen Diskussionen um Unterdrückung und Empowerment. Sie bezieht auch Akteur:innen aus der Region in den Produktionsprozess mit ein, was die Arbeit in ihrer Vielschichtigkeit an den Ort bindet.

Frisch gemauert

Auch Christian Hörlers Arbeit fügt sich in den Ort. Der in Ausserrhoden lebende Künstler hat für die Biennale einen schlichten Quader aus Steinen aufgeschichtet, die er in der Umgebung gefunden hat. Dafür nutzte er die Technik des Trockenmauerns, bei der Steine ohne Einsatz von Mörtel zusammengesetzt werden.

Christian Hörlers Trockenmauer Lichtmass Richtung Meer und eines seiner Vorbilder:

Die Skulptur gibt sich im Kleid lokaler Bausubstanz, strahlt aber zugleich den kühlen Formalismus der Minimal Art aus. Doch anders als dort steht bei Hörler eben genau der Prozess in seiner entschleunigten Zeitlichkeit im Fokus. Das traditionelle Handwerk und die moderne Formensprache treten in einen spannungsreichen Dialog. Und bieten ein Zuhause für Eidechsen und Insekten.

Einen ganz anderen Zugriff auf den Ort gibt es bei Jiajia Zhang und Jiří Makovec zu sehen: Die Arbeit des St.Galler Duos besteht aus einer 10-teiligen Postkartenserie mit Motiven, die die Künstler:innen im Bergell aufgespürt haben. Die Karten zeigen Spuren und Zeichen in der Landschaft – Markierungen und Fundstücke, natürliche oder menschgemachte.

Postkarten von Makovec/Zhang.

Die Verschiebung der Fotografien in das Medium der Postkarte so subtil wie konzeptionell stark: Die Postkarte als Bildträger verweist nicht nur auf den Tourismus in der Gegend; die Karten können in verschiedenen Läden im Bergell, aber auch in allen Postfilialen in der Schweiz gekauft werden. Das Tal verbreitet sich so – technisch reproduziert – im ganzen Land.

So unterschiedlich die Arbeiten in ihrem Zugriff auf das Bergell sind – in allen ist das Echo seiner Geschichte und Natur zu spüren. Und so verändert sich beim Spaziergang durch die Ausstellung auch der Blick auf das Dorf selbst. Die Kunst macht den Ort in seiner Vielschichtigkeit neu erfahrbar.

Biennale Bregaglia: bis 24. September, Vicosoprano
Buchvernissage: 30. Juli, 14.15 Uhr
Historische Führung «Frauen im Bergell»: 30. Juli, 16.15 Uhr

biennale-bregaglia.ch

Am 30. Juli erscheint nun eine umfangreiche Publikation zur Ausstellung. Nebst Besprechungen der Werke und zwei Essays zum Kontext der Ausstellung, gibt es darin auch einen literarischen Text der Rorschacher Autorin Anna Stern. Die Vernissage findet am 30. Juli in Vicosoprano statt – ein guter Grund, sich auf die Reise ins Bergell zu machen.

 

1 Kommentar zu Im Bann des Bergells

  • Hermann Ambuehl sagt:

    Schön wäre gewesen, wenn ich von der Vernissage und der Historischen Führung in Vicosoprano (30.Juli) etwas früher und nicht erst am 29.07. erfahren hätte. Aber trotzdem besten Dank für die einmal mehr hervorragenden kulturellen Informationen.

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