, 8. Mai 2022
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«Onedöre gohts au»

30 Jahre lang im Depot, jetzt erstmals wieder zu sehen: Das Museum im Lagerhaus zeigt den Bahnwagen, den Hans Krüsi 1992 bemalt hat, und rundherum eine fulminante Werkschau des Art-Brut-Künstlers. Im Mai tritt zudem Dichter Stauffer nochmal mit Krüsi in Dialog.

Hans Krüsi bemalter Velowagen der Appenzeller Bahnen, Detail. (Bild: Su.)

1992 beauftragen die Appenzeller Bahnen Hans Krüsi damit, ihren Velowagen zu bemalen. Einen Monat lang arbeitet der 72-Jährige im Depot Herisau an seinem grössten Werk, 21 Quadratmeter, Pinselstrich für Pinselstrich. Dann rollt der Prachtswagen aus dem Depot, das Fernsehen berichtet, die Aufmerksamkeit ist gross, die Geschichte auch allzu schön: Krüsi hat es vom verschupften «Bluememannli» zum gefragten In-Künstler geschafft.

Ein Jahr später erhält er den Auftrag, die Einkaufstaschen der Migros zu gestalten. Seine Werke erzielen hohe Preise, aber er verschenkt sie auch freizügig, und das Honorar für seinen Bahnwagen wirkt eher geringschätzig: ein 1. Klass-Abonnement lebenslänglich für die Appenzeller Bahnen. Krüsi sagt in dem in der Ausstellung gezeigten Filmporträt: Geld habe er jetzt genug – bloss mit der Gesundheit hapere es. Zeitlebens geschwächt durch eine frühe Tuberkulose-Erkrankung, stirbt er 1995 in St.Gallen.

Hans Kruesi beim Bemalen des Velowagens, 1992. (Bild: Siegfried Kuhn)

Krüsis Ruhm als einer der herausragenden Aussenseiter-Künstler strahlt bis heute – etwas verblasst sind hingegen die Bahnbilder. Der Wagen rollte einen Sommer lang von April bis Oktober als «Veloplausch»-Aushängeschild durchs Land, danach verschwanden die Tafeln für 30 Jahre im Depot.

Jetzt sind sie erstmals wieder zu sehen. Im Museum im Lagerhaus ist «Krüsi am Zug», wie die grossangelegte Ausstellung betitelt ist, mit den Bahnbildern im Zentrum: eine gewaltige Appenzellerlandschaft mit Hüsli, Bergen, Wegen, Alpaufzügen und immer wieder Velos. Man kann von den Details nicht genug bekommen.

Kuh und Mensch sind eins

Rund herum gruppieren sich Dutzende typischer «Krüsis». Er malt auf alles, was ihm in die Hände kommt – Packpapier, Wurstteller, Zigarrenschachteln, Milchtüten, Hölzer werden zum Malgrund und vor allem die legendären Papierservietten, deren Faltung ihn zu fantastischen Spiegelbildern inspiriert. Seine «gefitzte» Methode illustriert die Kuratorin der Ausstellung, Geraldine Wullschleger, an einer in einer Vitrine ausgelegten Serviette: Von der einen Seite betrachtet, sind es Kuhköpfe – dreht man sie um, kommen Silvesterchläuse zum Vorschein.

Kuh und Mensch wirbeln durcheinander in Krüsis bäuerlich geprägtem Kosmos. Kühe und Menschen samt Tannen formieren sich zu eigenwilligen Alpaufzügen, marschieren in Reih und Glied, bilden auf dem Bild 3Eidgenosen einen munteren Setzkasten. Seine Kuhphilosophie hat er 1980 auf einem Bild mit dem Titel Rund ist die Kuh formuliert: «Die Kuh ist rund Rund ist die Welt Die Kuh hat ein Kalb das Kalb wohnt auf dem Land. Die Kuh lauft in der Stadt herum Jeder möchte / viele haben eine Kuh. Wer keine hat ist ein Kalb.»

Hans Krüsi: 3Eidgenosen, 1981 (Bild: Kunstmuseum Thurgau)

Neben den Bildern und, im Kabinett, Fotoporträts von Regina Kühne oder Mario del Curto fehlen auch Objekte nicht, fragil wirkende Basteleien aus bemalten Abfallmaterialien: ein Windrad, ein windschiefes Haus, das in Krüsis Welt exotisch wirkende Krokodil oder eine der wunderlichen Kuhmaschinen, dreidimensionalen Alpaufzügen, die sich über eine knarrende Kurbel drehen lassen und Kuh und Mensch ins Unendliche vervielfachen.

Andreas Baumbergers Dokumentarfilm Hans Krüsi – Auch ein Esel trägt schwer aus dem Jahr 2004, der in Ausschnitten in der Ausstellung zu sehen ist, zeigt Krüsi beim Herstellen einer Kuhmaschine, beim Kochen, beim Malen. Er gibt in eindrücklichen Schwarzweiss-Aufnahmen Einblick in die Lebenswelt des Malers – seine oft wechselnden Behausungen im Linsebühl, seine stolze «Krüsi Gallerie» oder das Atelier an der Wassergasse 24, in jenem längst weg-gentrifizierten Fabrikgebäude, in dem auch die Kunsthalle 1988 bis 1992 ihre erste feste Bleibe hatte.

Geschätzt – und doch der «Esel»

Wie Krüsi von anderen Künstlern wahrgenommen wurde und wo sich seine Themen wiederfinden, zeigt die im zweiten Ausstellungssaal eingerichtete Dialogausstellung «Auch eine Kuh kann Optimist sein». Rolf Hauenstein zeichnet Krüsi, H.R. Fricker begegnet ihm, Marcus Gossolt fotografiert ihn, und Hedi Zuber porträtiert ihn mehrfach.

Hans Krüsi, fotografiert von Marcus Gossolt.

Auf einem anspielungsreichen «Abendmahl» mit dem Titel Himmel und Höll ist er umgeben von anderen Art-Brut-Künstler:innen inklusive Hedi Zuber selber; auf einem anderen Bild taucht sein Charakterkopf gleich 56fach auf. Daneben darf auch eine Kuh von Bleiker nicht fehlen und weitere mit Krüsi seelenverwandte Viecher.

«Krüsi am Zug» und «Auch eine Kuh kann Optimist sein»: bis 10. Juli, Museum im Lagerhaus St.Gallen

21. und 22. Mai: «Dichterstauffer ruft Krüsi», Spoken Word

museumimlagerhaus.ch

Krüsi ist im Museum im Lagerhaus «am Zug», in einer Fülle und Umsicht, wie es sie seit der Gedenkausstellung 1990 in St.Gallen nie mehr gab. Das könnte noch einmal Anlass geben, über den Umgang der «besseren Gesellschaft» und des Kunstbetriebs mit Autodidakten und «Originalen» wie Krüsi nachzudenken – auch wenn dies in der Ausstellung nicht ausdrücklich thematisiert wird.

In Andreas Baumbergers Film erzählt Krüsi von seiner schmerzlichen Kindheit als Waisenkind in Speicher, von der Zeit als verlachter Aussenseiter. «Wenns obedöre nöd goht, gohts halt onedöre. One hätts au Löcher, wo mer döre cha», sagt er einmal. Später sieht man ihn an einer Vernissage, in bester Laune, aber als gehörte er da nicht hin. Im Element ist Krüsi mit dem Pinsel, den er mit bestechender Sorgfalt und Kunstfertigkeit führt, mit den Tauben, mit den Tonbändern, auf denen er Naturgeräusche aufnimmt, mit den Blumen, die er jahrzehntelang an der Zürcher Bahnhofstrasse verkauft hat.

«I chomm mer vor wie’n en Esel, wo links und rechts vo zwei Hönd bewacht wert. Cha nöd vorwärts und nöd rückwärts – aber wenn de Esel abliit, chasch au nünt mache», sagt Krüsi einmal im Film.

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