, 18. April 2022
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Dranbleiben, sich nicht beirren lassen

Der Krieg gegen die Ukraine erinnert daran: Die Ostschweizer Friedensbewegung hat eine lange, reiche Geschichte. Ihre zentrale Botschaft: «Kriege werden durch Abrüstung verhin- dert, durch Gerechtigkeit und Solidarität.» Von Peter Müller

Die letzte grosse, schweizweite Bewegung: Widerstand gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen bei Gossau anfangs der 1990er-Jahren. (Bild: Gaston Isoz)

Rund um den Ukraine-Krieg herrscht bei uns ein gewaltiges Stimmengewirr, medial und im konkreten Gespräch. Analysen und Meinungen, Gefühle, Erlebnisse, Ängste, Prognosen – alles wild durcheinander. Die historische Dimension des Ganzen kommt dabei etwas zu kurz. Das gilt nicht nur für den damit verbundenen Einsatz für den Frieden, für eine friedlichere Welt.

Die Friedensbewegung hat in der Ostschweiz eine lange, erstaunliche Geschichte, und sie schweigt auch jetzt nicht. Dieser Beitrag wirft ein paar Schlaglichter darauf. Dabei kommen auch zwei Friedensaktivisten mit langjähriger Erfahrung zu Wort: Arne Engeli in Rorschach, Jahrgang 1936, und Ruedi Tobler in Lachen-Walzenhausen, Jahrgang 1947.

«Dem Frieden entgegen»

Zwei Namen, denen man verschiedene weitere anfügen könnte, zum Beispiel die Thurgauer Pfarrersgattin Ursula Brunner (1925–2017), Pionierin des Fairen Handels, FDP-Kantonsrätin und Armee-Kritikerin, die 1984 aus der Partei ausgeschlossen wurde, weil sie gegen eine Wehrschau der Armee in Frauenfeld ein Friedenscamp organisiert und die Gruppe «Frauen für den Frieden» gegründet hatte. Oder Fridolin Trüb (1919–2017), Pfarrerssohn aus Flawil, Künstler und Zeichnungslehrer an der Kantonschule St.Gallen. Er setzte sich über 70 Jahre für die Friedensbewegung ein, unbeugsam und beharrlich. In der Publikation Dem Frieden entgegen. 30 Geschichten und eine halbe, erschienen 2009, erzählt er davon, unter anderem von der Ausdauer und der Mischung von Stehvermögen und Beweglichkeit, die es im Kalten Krieg gegenüber Politik, Behörden und Gesellschaft brauchte.

Als Pazifist – so musste er sich vorhalten lassen – schwäche er den Staat und den Wehrwillen, bereite die kommunistische Machtübernahme vor. Er gehöre zu einer «Verräterclique, die von Atomgegnern, Theologen, Publizisten und Künstlern angeführt wird». Drastisch zu spüren bekam das sein 1951 geborener Sohn Hansueli. Er verweigerte Militärdienst und Zivilschutz. Die Konsequenz: Der Junglehrer erhielt im Kanton St.Gallen Berufsverbot, er konnte nicht einmal mehr Weiterbildungen im Figurenspiel anbieten.

Friedenswoche und Ostermarsch

Ruedi Tobler zum Krieg in der Ukraine:

«Die realistischste Hoffnung auf einen Abbruch des russischen Eroberungsfeldzuges liegt darin, dass sich unter den russischen Generälen ein ‹Stauffenberg› findet, der Putins Machtfantasien ein Ende bereitet. Es würde den Krieg nicht ungeschehen machen; aber es wäre doch eine Genugtuung, Wladimir Putin vom Internationalen Strafgerichtshof verurteilt zu sehen.

Ich muss zugeben, die Hoffnung auf vernünftige russische Generäle ist ein Eingeständnis der Schwäche der Friedensbewegung. Wir haben nicht die Mittel in der Hand, um Putins Kriegszug zu stoppen. Aber nichtsdestotrotz ist es wichtig, dass wir heute unseren Protest gegen den Krieg zum Ausdruck bringen und unsere Solidarität mit dem weltweiten Widerstand gegen diesen Krieg bekunden, der allein in Russland schon Tausende ins Gefängnis gebracht hat.»

All diese Personen trugen Wesentliches zur Aktivität und zur Stärke der Ostschweizer Friedensbewegung bei, meinen Arne Engeli und Ruedi Tobler im Rückblick. Eine wichtige Wurzel des Ganzen waren kirchliche Kreise, insbesondere die religiös-soziale Bewegung, die in der Ostschweiz weit verbreitet war – vor allem als geistige und geistliche Strömung, weniger als Organisation. Wichtige Akzente setzten der Erste und der Zweite Weltkrieg, und dann auch der Kalte Krieg, insbesondere die Stationierung von Atom-Raketen in Europa in den 1980er-Jahren, und in den 1990er-Jahren dann der Krieg in Jugoslawien.

Stark in der Friedensarbeit engagiert war unter anderem das Evangelische Tageszentrum Schloss Wartensee in Rorschacherberg mit den drei Leitwerten «Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung». In Rorschach wurde die «Fridesziit am See» initiiert, in St.Gallen die «Friedenswoche» – letztere existiert noch heute. Dasselbe gilt für den Internationalen Ostermarsch im Bodenseeraum, heute «Bodensee-Friedensweg».

Tausende marschierten damals im Kalten Krieg mit. Die Angst vor einem Atomkrieg mobilisierte stark, obwohl die digitalen Möglichkeiten von Facebook, Instagram und Co. noch nicht existierten. Man könnte auch sagen: Die Konflikte und Bedrohungen waren klarer und überblickbarer als heute.

Widerstand gegen Waffenplatz

Der nächste Friedensweg (die 28. Ausgabe) findet heute, am Ostermontag, 18. April, in Bregenz statt unter der Devise: «Es geht ums Ganze! Klima. Gerechtigkeit. Frieden».

Einige der zentralen Themen, für die sich die Ostschweizer Friedensbewegung engagierte, betrafen das eigene Land: die Abrüstung, die Betreuung von Militärdienst-Verweigerern und die Schaffung eines Zivildienstes. Und Ende 1989 kam Neuchlen-Anschwilen. Bei Gossau sollte ein neuer Waffenplatz gebaut werden. Der Widerstand war zunächst nur schwach, wuchs sich dann aber zu einer landesweiten Protestbewegung aus.

Auf dem Gelände demonstrierten bis zu 3000 Personen; mit gewaltfreien Sitzblockaden wurde versucht, die Bauarbeiten aufzuhalten. Es gab hässliche Szenen mit Polizei und Gummischrot, mit rechtsextremen Schlägern und Verletzten. Genutzt hat der Protest nicht – die Kaserne wurde gebaut. Und die Volksinitiative, die aus dieser Bewegung erwuchs, wurde am 6. Juni 1993 mit 55 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. «40 Waffenplätze sind genug – Umweltschutz auch beim Militär» hatte sie gefordert.

Eine andere Frage ist, was beides mittelfristig bewirkt hat – vergleichbar der Armeeabschaffungsinitiative von 1989. Hier sieht es besser aus, zum Beispiel was den Umgang der Schweizer Armee mit dem Umweltschutz betrifft. Und einer der damals Beteiligten, der Journalist und Publizist Michael Walther, gibt zu bedenken: «Diese Waffenplatz-Opposition war die grösste und letzte grosse schweizerische Bewegung in der Tradition der 68er-, der 80er-Krawalle, der Anti-AKW- und der Rothenturm-Bewegung.»

Mehr zu Neuchlen-Anschwilen und weiteren Friedensthemen gibt es im Neujahrsblatt Soziale Bewegungen in der Ostschweiz, 2016 herausgegeben vom Historischen Verein des Kantons St.Gallen oder hier.

Eine Kirchenglocke in Nagasaki

Arne Engeli zum Krieg in der Ukraine:

«Die Friedensbewegung muss Gegensteuer geben zum sofort eingesetzten Ruf nach mehr Aufrüstung in der Schweiz. Der Klimawandel und der Hunger in der Welt sind unsere grössten Bedrohungen, hier müssen wir unsere Ressourcen einsetzen. Mehr Waffen machen die Welt nicht sicherer. Frieden ist die Frucht von Gerechtigkeit.

Am Beispiel der Ukraine kann aufgezeigt werden, mit welchen Anstrengungen ein Krieg möglicherweise hätte verhindert werden können. Im Minsker Abkommen II von 2015 beispielsweise hat man sich auf Schritte für eine friedliche Lösung geeinigt, die dann aber sowohl von der Ukraine wie von Russland nicht umgesetzt und von den übrigen Unterzeichnerstaaten (Frankreich, Deutschland) nicht oder
zu wenig eingefordert wurden. Diese Kritik rechtfertigt aber in keiner Weise Putins schändlichen Überfall auf die Ukraine. 2014, nach der Annexion der Krim, hatte ich ihn in einer Rede ‹den neuen Zaren› genannt.»

Was man gerade in St.Gallen leicht vergisst, ist der Beitrag des Appenzellerlandes zum Thema. Das Kinderdorf Pestalozzi, gegründet 1946, hat immer wieder Impulse für den Frieden beigesteuert. Dasselbe gilt für Heiden, wo Henry Dunant, der Gründer des Roten Kreuzes, seine letzten 18 Lebensjahre verbrachte. Seit 1969 gibt es hier das Henry-Dunant-Museum, und seit dem Dunant-Jubiläum 2010 zum 100. Todestag sei Heiden zum eigentlichen Friedensdorf geworden, meint Ruedi Tobler.

Man eröffnete einen Friedensweg, und 2011 erhielt das Dunant-Museum von Nagasaki die «Peace Bell» geschenkt, eine 110 Kilogramm schwere Kopie der Angelus-Glocke aus der ältesten christlichen Kirche Japans. Das Original hatte den Atombombenangriff auf die japanische Stadt Nagasaki vom 9. August 1945 überstanden und erlitt nur unbedeutende Schäden. Heiden ist auch Mitglied der «Mayors for Peace», einer weltweiten Vereinigung von Städten, die für die Abschaffung der Atomwaffen einstehen.

«Ausschlaggebend sind Gefühle»

Beim Stichwort Heiden sind wir in der Gegenwart angelangt. Friedensaktivitäten gibt es immer noch, vor allem spontane, aus der Situation heraus. Auch Termine wie die jährliche Kundgebung am UN-Weltfriedenstag in St.Gallen oder das Sozial- und Umweltforum St.Gallen (Sufo). Aktiv sind auch die GSoA-Regionalgruppen St.Gallen und Thurgau.

Was aus Sicht von Arne Engeli fehlt, sind jedoch langfristige professionelle Strukturen. Sie seien nie aufgebaut worden. Im deutschen Bodenseeraum gebe es jetzt Ansätze dazu. Ruedi Tobler ergänzt, dass der Charakter von Bewegungen ein Auf und Ab sei und ihre Entwicklung kaum vorhersehbar. Er zitiert dazu Sätze, die er schon 1981 geschrieben hat: «Auffällig ist, dass solche neue Bewegungen in der Regel ein erhebliches ‹Theoriedefizit› aufweisen, aber zugleich eine wesentlich höhere Mobilisierungskraft entwickeln. Es ist offensichtlich nicht in erster Linie Erkenntnis, die Menschen zum Handeln bringt. Viel ausschlaggebender sind dafür Gefühle.»

Nach Toblers Ansicht zeigt sich das auch jetzt im Zusammenhang mit dem Krieg Russlands bzw. Putins gegen die Ukraine. Niemand weiss, wie er zu stoppen ist; aber das hält kaum Leute von der Teilnahme an Kundgebungen ab.

Arne Engeli, 1936, ist Politologe und war bis 2021 Koordinator des Bodensee-Friedenswegs, leitete von 1971 bis 1991 das Bildungszentrum Schloss Wartensee, präsidierte von 1992–1996 den Schweizerischen Friedensrat und war 1992 Mitinitiant von «Gemeinden Gemeinsam Schweiz», eine Reaktion auf den Zerfall Jugoslawiens. Hier gehts zu einem Radiofeature mit Arne Engeli auf SRF-Kultur.

Ruedi Tobler, 1947, ist Friedens- und Menschenrechtsaktivist, Präsident des Schweizerischen Friedensrates, Mitglied der Vorbereitungsgruppen für den Bodensee-Friedensweg wie den UNO Friedenstag und der Projektgruppe Appenzeller Friedens-Stationen.ch (von Walzen- hausen nach Heiden).

 

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