, 31. März 2022
keine Kommentare

«Was sollen denn die Nachbarn denken…»

Brautraub hat Tradition in Kirgistan – bis heute. Maria Brendles Kurzfilm Ala Kachuu erzählt die bildstarke, drama­tische Geschichte einer jungen Frau, die für Selbstverwirklichung und gegen kulturelle Zwänge kämpft. Ab Sonntag zu sehen im Kinok St.Gallen.

Sezim und Dayrbek, zur Ehe gezwungen. (Bilder: Filmstills)

«Das wird von uns erwartet.» Es ist dieser eine, schwerwiegende Satz, der für fast alle Protagonist:innen im Kurzfilm Ala Kachuu (Englisch: Take and Run) gilt. Von der Hauptfigur Sezim (Alina Turdumamatova) wird erwartet, dass sie sich gegen ihren Willen ehelichen lässt, von Dayrbek (Nurbek Esengazy Uulu) wird erwartet, dass er auf offener Strasse seine spätere Ehefrau packt und entführt, und von ihren Eltern wird erwartet, dass sie ihre Tochter und ihren Sohn tradi­tionsgemäss zwangsverheiraten – alles, damit das gesellschaftliche Ansehen gewahrt wird.

Dabei würde Sezims Leben, wenn es nach ihr ginge, ganz anders verlaufen. Sie will ausziehen, studieren, träumt von einer WG mit ihrer Freundin Aksana (Madina Talipbekova), die in der Hauptstadt Bischkek lebt. Fast hätte sie es geschafft. Ala Kachuu beginnt als Coming-of-Age-Movie: Sezim verlässt heimlich das kirgisische Hinterland, das zweifellos wunderschön ist, aber nichts für junge Leute, und macht sich auf in die Stadt, wo sie auf ein Stipendium hofft und derweil einen Brotjob antritt.

Von der Stadt zurück in die Steppe

Nach nur 12 Minuten ist alle Freude, alle Farbigkeit in den Bildern verschwunden. Bei Feierabend wird Sezim von Dayrbeck und zwei Freunden entführt, verschleppt und zurück in die Pampa spediert, wo sie verschleiert und unter Tränen in ihr neues Leben als Ehefrau bugsiert wird. «Wir sind alle mit Tränen gekommen», sagt ihre neue Schwiegergrossmutter beim Versuch, Sezim auf Linie zu bringen, «auch deine Tränen werden trocknen. Du bist noch jung. Ich verstehe deine Traurigkeit.»

Will studieren: Sezim.

Hier zeigt sich, wie toxisch dieses System des Brautraubs ist. Die «Tradition» wird von Generation zu Generation weitergegeben, und es sind nicht zuletzt die betroffenen Frauen, die ihre Töchter und Enkelinnen in die Zwangsehe drängen. Es gibt nur Opfer in diesem Film. Die Frauen leiden natürlich am meisten darunter, aber auch die Männer sind in diesem System verfangen, so tief, dass sie, anders als viele Frauen, nicht merken, wie sehr sie es internalisiert haben, und gar nicht erst auf die Idee kommen, zu flüchten.

Wer aufbegehrt oder gar ausbricht, hat die gesellschaftlichen Folgen zu tragen – «Was sollen denn die Nachbarn denken …», ist auch hier eine vielgehörte Drohung. Aksana, die die Steppe verlassen und mit der Familie gebrochen hat, gilt allein schon deswegen als «Flittchen», ihre Mutter wird von der Dorfgemeinschaft dafür geschnitten – was in der kirgisischen Wildnis fatal ist, schliesslich ist man zum Überleben aufeinander angewiesen. Wie eng dieses soziale Korsett sitzt, bringt Aksana in ihrer Wut einmal auf den Punkt: «Euer verdammter Stolz ist euch wichtiger als die Zukunft eurer Kinder!»

Vier Jahre für 38 Minuten

Mit Ala Kachuu hat Maria Brendle ein wichtiges, unter­belichtetes Thema aufgegriffen. Über vier Jahre sind von der Recherche bis zur Fertigstellung des Kurzfilms vergangen, Finanzierungsprobleme inklusive. Überhaupt war es ein ambitioniertes Projekt: Vor der Arbeit am Film hatte Brendle überhaupt keine Berührungspunkte zu Kirgistan, abgesehen von einem Berufskollegen, der das Land bereist und ihr bei seiner Rückkehr von der gängigen Praxis des Brautraubs berichtet hat – wodurch, nach der anfänglichen Empörung, die Idee zum Film entstanden ist. Beziehungen vor Ort knüpfen, Casting, Setting, Technik und Kostüme organisieren, auch kulturelle Brücken bauen: Das alles hat sie mit ihrem Team quasi aus dem Nichts aufgezogen.

Ala Kachuu: 3. (Premiere), 6., 8., 15., 22. und 30. April, Kinok St.Gallen

kinok.ch

Sie wolle für das Thema sensibilisieren, sagt ZHdK-Absolventin Maria Brendle. Das ist ihr mit einem starken Cast, einem sensiblen Plot und gewaltigen Bildern in einem lediglich 38 Minuten langen Film gelungen. Und sie schafft es, nicht mit einer «westlichen Brille», von oben herab, auf Kirgistan zu blicken – was auch «dem wertvollen Team vor Ort» zu verdanken ist, wie sie in einem Podcast-Interview erklärt.

«Ala Kachuu», übersetzt «Packen und Losrennen», wird auch in Kirgistan breit kritisiert. Der Brautraub ist zwar mittlerweile illegal, wird aber dennoch weiter praktiziert. Genaue Zahlen gibt es kaum, Schätzungen gehen aber davon aus, dass ein Viertel bis die Hälfte aller kirgisischen Ehen durch «Ala Kachuu» geschlossen wird. Brendles Arbeit wirft ein Schlaglicht auf diese unmenschliche Praxis und schafft ein Stück internationale Öffentlichkeit – nicht zuletzt mit einer Oscar-Nomination für den besten Kurzfilm.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit 30 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!