, 2. November 2021
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Die träfe Kamera des Mäddel Fuchs

Der Fotograf Mäddel Fuchs erhält am 4. November den Ausserrhoder Kulturpreis 2021. Zuletzt ist von ihm das Buch Irgendwo und überall erschienen – eine Retrospektive auf 40 Jahre eigensinniger und engagierter Reportagefotografie.

Ohne Titel (Stühle). (c) Mäddel Fuchs

Das Schild mit der Hausnummer hat schon bessere Zeiten gesehen. Aber die Nummer ist klar lesbar: «68». Darunter ein anderes Schild, noch verwitterter und besprayt: «Privat. Kein Durchgang». Kommentar des Fotografen, der die beiden Schilder mit der Kamera in Dialog bringt: «Unliebsame Erkenntnis».

Auch die Stop-Tafel mit den angerempelten Beinen ist ein typischer Mäddel-Fund, samt der Bildunterschrift.

Ein Ungläubiger (c) Mäddel Fuchs

Mäddel Fuchs hat das Auge für solche «objets trouvées». Und er hat den Humor, manche würden wohl sagen: den typisch appenzellischen Witz, dazu das träfe Wort zu setzen.

In seiner jüngsten Publikation mit dem Titel Irgendwo und überall kombiniert Fuchs auf diese Weise Bilder und Bildkommentare. Das Resultat können politisch pointierte Botschaften sein, wie beim obigen «privatisierten» und lädierten 68er-Schild. Wie bei der leeren Kultur-Plakatsäule, die als «Sparerfolg» betitelt ist. Oder wie beim Bild eines schlafenden Obdachlosen, über dessen Kopf an die Wand gekritzelt «Tod dem Fixerpack» steht. Fuchs schreibt dazu lakonisch: «All you need is love».

Daneben haben es Fuchs die Trouvaillen des Alltags angetan. Verkehrsschilder, die das reinste Chaos anrichten. Eine Einbahntafel unter dem Strassenschild «Rue des Pensees». Eine Wäscheleine mit stramm aufgereihten Hosenbeinen. Oder jenes Stilleben, das auch das Buchcover ziert: ein Tisch und zwei Gartenstühle im Schnee, ein wundersames Spiel von Licht und Schatten, eine Momentaufnahme heiterer Gelassenheit. Das Bild erinnert an den unvergesslichen, 2010 erschienenen Band Hag um Hag, in dem Fuchs über viele Jahre hinweg entstandene Aufnahmen von Holzzäunen im Schnee versammelt hat.

Statt Wort und Bild kommentieren sich an anderen Stellen im jüngsten Buch Bild und Bild. Von der Zersiedlung im Schweizer Mittelland etwa erzählt ein fotografisches Tryptichon: erst ein üppiges Kohlfeld, dann das gleiche Feld im Winter, mit Bauvisieren verstellt, schliesslich die auf dem Acker hochgezogene Wohnsiedlung.

Anderswo finden sich Satellitenschüsseln zu einem surrealen Tanz oder abgeschränzte Plakate zum Zwiegespräch; ein übriggebliebenes Auge beäugt einen grinsenden Mund. Dann wieder stockt dem Betrachter der Atem: Fuchs fotografiert in einer französischen Kleinstadt einen Schulbus mit der Aufschrift «Transports d’enfants» neben einer Gedenkstele für die im Ersten Weltkrieg gefallenen «Enfants morts pour la patrie».

Voilà! (c) Mäddel Fuchs

Manchmal braucht es keine Worte, oft sprechen die Bilder klar genug. Und manchmal bleiben dem Fotografen die Worte weg. So bei den Schmierereien auf einem französischen Friedhof, den Hakenkreuzen und rassistischen Ungeheuerlichkeiten, die er kommentarlos fotografiert, den Blick des Betrachters zugleich von den Schmierereien weg auf die Grabsteine im Hintergrund lenkend. Und es muss nicht das Ausland sein, wie die Bilder auf den nächsten Seiten zeigen: Auch in den Schweizer Alpen findet Mäddel Fuchs faschistische Parolen.

«Fotografische Haikus», «bildhafte Shortstorys» oder «dadaistische Rutschpartien»: So charakterisiert Daniele Muscionico im Vorwort zum Buch die Bildsprache von Mäddel Fuchs. Und zieht Parallelen einerseits zu den gesellschaftskritischen Karikaturen des «Nebelspalter»-Zeichners Bö alias Carl Böckli, andrerseits zu Paul Senn, dem Grossmeister der Reportagefotografie, und schliesslich zu Walker Evans und der amerikanischen Street Photography.

Wie bei dieser seien Fuchs’ Arbeiten «Produkte von Zufall und von schneller Auffassungsgabe, von Intuition für den seelenvollen Moment und für die Komik der Kreatur». Bloss dass er all dies nicht nur in der Grossstadt (dort auch) findet, sondern ebenso auf dem Land.

Ohne Titel (Schuppen in der Nacht) (c) Mäddel Fuchs

Mäddel Fuchs selber bringt im Nachwort eine weitere Inspirationsquelle ins Spiel: die Wochenend-Beilage der NZZ, in der er in den Achtzigerjahren seine Bild-Wort-Momentaufnahmen unter dem Titel «Aufgeschnappt» publizieren konnte. In seinem jüngsten Buch stammt rund ein Drittel der Beiträge aus jener Zeit. Doch auch nach dem Ende der Serie habe sich «die Art, fotografisch kommentierend durch die Welt zu gehen, unverrückbar in mir festgesetzt», schreibt Fuchs.

Mäddel Fuchs: Irgendwo und überall, Scheidegger & Spiess 2021, Fr. 49.-

Kulturpreisverleihung an Mäddel Fuchs und Ruth Waldburger (Anerkennungspreis): 4. November, 19 Uhr, Kursaal Heiden, Anmeldung: kultur@ar.ch

Jetzt wird Mäddel Fuchs, Jahrgang 1951, in Zürich und in Trogen aufgewachsen, mit dem Ausserrhoder Kulturpreis geehrt. Im Appenzellerland ist er heimisch, ihm hat er 1985 seinen ersten Fotoband gewidmet, hier ist sein Viehschau-Buch (1998) entstanden, seine herzliche Hommage an den Hausierer Arthur Zünd (Chome gaad, 2001) oder der Bild-Textband Appenzeller Welten (2016).

Aber wie weit der Blick von Mäddel Fuchs über seine Heimat hinausgeht und wie wenig er mit den (auch von Vorwort-Autorin Muscionico eher überheblich repetierten) Appenzell-Klischees am Hut hat, zeigt sein Andalusien-Buch Con Triana (2004) und zeigt die Retrospektive aus vierzig Fotografenjahren im jüngsten Buch: Die USA, Frankreich, Italien, der Balkan, die Schweiz und andere Regionen bekommen vom schlauen Fuchs einen freundlich unerbittlichen Spiegel vorgehalten. Und dies, wie es bei Mäddel Fuchs nicht anders sein kann, in konsequentem Schwarz-Weiss.

Dieser Beitrag erschien im Novemberheft von Saiten.

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