, 28. Oktober 2021
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Buchpreis und Bücherschicksale

Einer wollte den Preis nicht. Die andern vier beziehungsweise ihre Bücher kann man heute abend auf Einladung des Literaturhauses Wyborada in der St.Galler Grabenhalle kennenlernen: die Favorit:innen für den Schweizer Buchpreis 2021.

Natürlich müsste man alle fünf – oder jedenfalls vier – Bücher gelesen haben, die für den Buchpreis nominiert sind. Aber hier zumindest die Lobrede auf einen der Favoriten: den Roman Feuerland von Michael Hugentobler.

Eine unwahrscheinliche Geschichte, fabelhaft erzählt: Im zweiten Roman des Zürcher Autors mit Jahrgang 1975 steht ein Buch im Zentrum, ein Wunder von einem Buch. Es ist ein Wörterbuch zur Sprache des ausgerotteten indigenen Volks der Yamana in Patagonien, am südlichsten Zipfel Südamerikas. Ein Buch, in dessen scheinbar seriösen Wortdefinitionen eine ganze Welt steckt, ein Kosmos von Landschaften, Gefühlen, Dingen, ein «unglaublicher Reichtum an gesammelten Fetzen von Leben».

Flucht in die Schweizer Alpen

Dieses Buch (das es tatsächlich gibt, wie der Autor im Nachwort bekräftigt) fällt in die Hände des deutschen Linguisten und Völkerkundlers Ferdinand Hestermann, der seine Einmaligkeit erkennt. «Hestermann hatte bisweilen das Gefühl, dieses Buch sei nur als Wörterbuch getarnt, in Wahrheit sei es ein Bauplan, eine Anleitung zum Erschaffen eines Teils der Welt, für den Fall, dass diese Welt einst untergehen sollte.»

Doch dann, in den 1930-Jahren, kommen die Nazis an die Macht, und die geistige Welt droht tatsächlich unterzugehen. Das «Zauberbuch» kommt mitsamt seinem Besitzer in tödliche Gefahr.

Hugentobler taucht mit Detailwissen und Fabulierlust in die Welt dieses Buchs und das Leben seines skurrilen, unablässig seine «Lux» rauchenden Protagonisten, der mit stupendem Wissen über die Verwendung des Verbs in der sumerischen Keilschrift referieren kann, über die Araukaner, über deutsche Ortsnamenforschung, über die Pluralbildung im Monumbo in Papua Neuguinea oder die doppelte Verneinung in der tibetobirmanischen Sprache Mizo.

Michael Hugentobler: Feuerland, dtv München 2021, Fr. 28.90

Schon als Hommage an solche linguistischen Abwege oder vom Aussterben bedrohte Sprachen ist das Buch lesenswert. Hinzu kommt der brisante politische Hintergrund.

Hestermann gelingt samt Buch die Flucht in die Schweiz. In Zürich gerät er an den (aus St.Gallen stammenden) Eugeniker Otto Schlaginhaufen und dessen üble «rassenhygienischen» Schädeltheorien, landet auf einem Faschistentreffen in den Berner Alpen, rettet sich ins Fribourgische, bekommt Hilfe vom bibliophilen Papst Pius XI. und… Wie Hugentobler seine Geschichte um das Wörterbuch ausgehen lässt, sei nicht verraten.

Krachts krachende Absage

Grosses Lesevergnügen mit Hugentobler – grosse Verärgerung bei der Trägerschaft des Buchpreises dagegen über den ebenfalls von der Jury auserwählten Christian Kracht.

Auf Anhieb mochte es generös klingen, was Kracht am 21. September mitteilte, nachdem sein Buch Eurotrash auf der Shortlist gelandet war: Er verzichte auf den Preis. Zum einen habe er ihn bereits 2016 gewonnen und wolle «den anderen nominierten Schriftstellerinnen und Schriftstellern eine bessere Chance auf den Preis geben». Zum andern wolle er «der Diskussion über die Förderung meines Werkes, wie sie bisweilen in einigen Schweizer Medien betrieben wird, nicht weiteren Stoff liefern.»

Kracht war 2020 im «Tages-Anzeiger» mit einem allerdings fragwürdigen Neid-Artikel angegriffen worden, weil er für die Arbeit an Eurotrash von Pro Helvetia Fördergelder erhalten hatte, obwohl er aus wohlhabendem Haus stamme.

Die gönnerhafte Verzichts-Geste möge man dem Exzentriker Kracht nicht ganz abnehmen, kommentierte SRF, zumal sich die Scheinwerfer nun auf ihn richteten, statt auf die verbliebenen vier Nominierten. Von der Shortlist für den deutschen Buchpreis, auf die es sein Buch ebenfalls geschafft hatte, verabschiedete er sich jedenfalls nicht – und ging jetzt dort leer aus, den Preis gewann Blaue Frau von Antje Ravik Strubel.

Die Schweizer Jury bedauerte, dass die Absage so spät kam. Und auch die Schriftstellerin Veronika Sutter, die ebenfalls für den Preis nominiert ist, fand: «Hätte sich Christian Kracht früher für einen Verzicht entschieden, würde nun jemand anders von der Nomination profitieren.»

Frauenbiographien, Männergeschichten

Bleiben also vier Bewerber:innen übrig – die man ob all den Diskussionen um Kracht nicht vergessen sollte. Dafür sorgt die Lesetour der Nominierten, die heute Abend in der St.Galler Grabenhalle Halt macht, organisiert vom Literaturhaus Wyborada und moderiert von dessen Leiterin Anya Schutzbach.

Unter den Nominierten sind zwei Debüts – und deren Autor:innen sind in St.Gallen auch persönlich anwesend: Veronika Sutter und Thomas Duarte.

Veronika Sutter, Jahrgang 1958 und in Zürich lebend, erzählt in Grösser als du eine Reihe von Frauenbiografien, zeitlich aufgespannt zwischen den Frauenstreiks von 1991 und 2019. «Durch dichte Sprache, präzise Schnitte und überraschende Wendungen gelingt es der Autorin, die Geschichten der Frauen zum Leuchten zu bringen», schreibt die Jury.

Thomas Duarte, Jahrgang 1967, legt mit Was der Fall ist laut Juryurteil «ein funkelndes Erzählfeuerwerk» vor und «entlarvt dabei mit Ironie und Witz die Absurdität der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft». Die Ausgangslage: Ein Sachbearbeiter einer Stiftung erscheint nach Mitternacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein Leben aus den Fugen geraten ist.

Martina Clavadetscher (1979) war bereits mit ihrem Debütroman Knochenlieder 2017 für den Buchpreis nominiert. Die Erfindung des Ungehorsams handelt von drei Frauen und der Frage nach künstlicher Intelligenz. Iris, die in Manhattan durch ihr Penthouse tigert und voller Ungeduld auf die nächste Dinnerparty wartet. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas, die künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler kontrolliert. Und Ada Lovelace im alten Europa, Pionierin der Programmiersprache, die von neuartigen Maschinen träumt. «Sie alle sind auf der Suche nach dem Kern der Dinge», schreibt die Jury: «Ein Roman, der durch seine thematische Aktualität und sprachliche Kraft besticht.»

Und der vierte im Bunde, eben: Michael Hugentobler und sein Roman Feuerland. Passagen daraus liest in der Grabenhalle der Schauspieler Helmut Vogel.

Schweizer Buchpreis 2021 – Die Nominierten: 28. Oktober 19 Uhr Grabenhalle St.Gallen

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