, 29. September 2021
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Darauf pissen die Eulen

Zwei Freunde nachts in der Stadt, viel Bier, kumpelhafte und düstere Erinnerungen: Davon erzählen der tschechische Autor Jaroslav Rudiš und der Wiener Zeichner Nicolas Mahler. Das St.Galler Theater am Tisch bringt ihre Graphic Novel «Nachtgestalten» jetzt szenisch in die Lokremise.

Sie reden über das Ende der Geschichte. Max glaubt daran, Jaro nicht. Dann über Hanna, die sie beide geliebt haben. Sie gehen durch die dunkle Stadt, kurz ein Stop in einer Kneipe an der Ecke, weiter zur nächsten Kneipe und zum nächsten Bier. Und wieder Hanna, von der Max nicht loskommt im nächtlichen Erinnern.

«Die Stadt schläft leise und einsam», heisst einer der schönen Sätze im Buch. Aber ganz einsam ist die Stadt nicht, dank Nachtgestalten wie den beiden. Sie kommen auf der Gasse zusammen unter einem blutroten Mond. «Und du, sonst so? – Gut. – Dann ist es gut, wenn es gut ist.»

Nachtgestalten ist die Geschichte des tschechischen Autors Jaroslav Rudiš und des Wiener Zeichners Nicolas Mahler betitelt. Rudiš hat die Figuren erfunden, ihre kurzen Dialoge mit dem vielen Schweigen dazwischen, und Mahler hat die schwarz-blaue nächtliche Stadt gezeichnet, durch die sich die zwei mit ihren unverwechselbaren Mahler-Silhouetten treiben lassen: Max, der lange Schmale, und Jaro, der kurze Dicke.

Es sind zwei Philosophen des Alltags, in jener Mischung von Humor und Grübelei, die es so vielleicht nur im Land des braven Soldaten Schwejk gibt. Sie trinken sich Erinnerungen zu, zum Beispiel an die Bergtour damals auf den Mont Blanc, wo der Rettungsheli Max vom Berg herunterholen musste, ihn, der das Wandern hasst, der die Natur hasst, ihn, den Stadtmenschen, der gar nie auf den Berg hochwollte. Oder an Hannas Hochzeit, die Max (oder war es Jaro?) beinah platzen liess. An die Konzerte ihrer grauenhaft schlechten Punkband, damals in Brünn, 17 Leute im Publikum oder waren es doch mehr als 20?

«Darauf pissen die Eulen», sagt Jaro. Es ist der Zaubersatz im Text, Jaro hat ihn von seinem Grossvater gelernt: Alles halb so wichtig.

In kreisenden Erinnerungen holen die beiden Geglücktes und Verpasstes in die Nacht zurück. Vor allem Verpasstes. Und Hanna, immer wieder. Hanna, mit der Jaro einmal geschlafen hat. Wars gut? Sag nichts! Es sind Männer-Geschichten, viel Bier, viel Sentimentalität, ein Schuss Eifersucht, Frauen, alte Verletztheiten, Lachen und Schweigen und nicht (oder vielleicht doch) Darüberredenwollen.

Jetzt kommen die Nachtgestalten von Prag nach St.Gallen. Beim hiesigen freien Ensemble Theater am Tisch haben sie Geistesverwandte gefunden: Marcus Schäfer und Oliver Losehand sprechen und spielen die beiden Freunde, Marcel Elsener und Peter Lutz begleiten mit E-Gitarren. Und Jurek Edel hat Mahlers Bilder aus der Graphic Novel animiert.

Dank ihm fliegt der Heli tatsächlich und landet hinter den schwarzen Häuserfassaden. Mal leuchtet ein einsames Fenster auf und erlischt wieder. Der Rauch der Zigaretten schwebt durch die Nacht, dass man ihn zu riechen glaubt. Und die Wisente ziehen in ihrem langsamen Schritt durch den kahlen Wald.

Ein Wisentbulle müsste man sein, dann wäre man der glücklichste Mensch, sagt Max. «Darauf pissen die Eulen», sagt Jaro.

Am Wortlaut digital statt live

Geplant war das Projekt zuerst für das Wortlaut-Festival Ende März 2021. Die Pandemie verunmöglichte es jedoch und verbannte das ganze damalige Festivalprogramm ins Netz – so entstand die auf Youtube zugängliche Fassung des Stücks. Diesen Donnerstag kommen die Nachtgestalten jetzt doch noch live, in der St.Galler Lokremise auf die Bühne.

Nachtgestalten, 30. September, 21 Uhr, Lokremise St.Gallen

lokremise.ch

«Es gibt kein Entkommen», sagt Max, von Beruf Historiker, einmal. Der Satz gilt vermutlich dem Tod oder dem Ende der Geschichte, vielleicht auch der Männerfreundschaft. Er gilt aber auch der faschistischen Vergangenheit. In die privaten Erinnerungen schiebt Autor Rudiš zunehmend politische Bezüge ein. Max erzählt etwa von der «Havelliste», welche die «Rechten» und «Nazischweine» neuerdings über die kritischen Geister im Land anlegen. Er erinnert an die Zyklon-B-Fabrik in Kolin, wo das Gas für Theresienstadt produziert wurde, und an die Tötung der Grosseltern im KZ.

Darauf dann halt nochmal ein Budweiser. Obwohl das auch nichts hilft. «Noch ein Bier, und wir hätten alle Probleme der Welt gelöst», sagt einer der beiden einmal. «Aber dieses letzte Bier fehlt immer.»

«Es gibt kein Entkommen»: Das Nachtgestalten-Quartett Elsener, Lutz, Schäfer, Losehand (von links). (Bild: pd)

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