, 28. September 2021
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Die Bassdroge

Nice Nine bringt nach Jahren auf den Tanzflächen und im Underground endlich sein erstes Album heraus: «Tonight’s Flashes». Die facettenreiche Werkschau eines Süchtigen.

Roger Berhalter alias Nice Nine. (Bilder: Benjamin Manser)

Manches kann man nicht aufhalten. Die Liebe, natürlich. Oder Veränderungen im Leben. Und auch Alben müssen manchmal einfach raus, gerade wenn was schon ewigs zwickt und juckt. Bei Roger Berhalter alias Nice Nine war es jedenfalls so. Seit Jahren im heimischen Keller verschanzt, nur mit zwei Boxen, einem Subwoofer und einem Computer vergesellschaftet, so alleine tüftelte und schraubte er vor sich hin, bis die Zeit endlich reif war: Zehn Tunes wollten ans Licht.

Die Albumtaufe war denn auch überaus sonnig. Ganz entgegen des undergroundigen Musikstils, der seinen Ursprung im jamaikanisch beeinflussten Jungle und in den verschwitzten Breakbeat-Kellern Londons der frühen 90er-Jahre hat und der sonst geprägt ist von Nebelschwaden und versponnenen Basswelten. Drum’n’Bass ist nicht gemacht für den Daydance. Eigentlich. Doch an diesem Samstag im August hats gepasst: Auf einer Dachterrasse mitten in St.Gallen wurde Nice Nines Album unter Beifall und Sonnenschutz getauft.

Tonight’s Flashes dauert nur gut eine Stunde. «Neun der zehn Tracks sind im letzten Jahr entstanden», sagt Nice Nine. «Meine Verarbeitung der Coronazeit – mit sonnigen und düsteren Momenten.» Es ist nur ein kleiner Teil dessen, was sich über die Jahre angesammelt hat. Er hätte Material en masse.

Sobald die Studiotür hinter ihm zufällt, ratterts. Dann kommen die Ideen. Mal inspiriert ihn ein Sample, mal eine Stimme, mal ein Alltagsgeräusch. «Es ist wie ein Schalter, der sich umlegt», erklärt er. «Kreative Blockaden habe ich so gut wie nie, dafür immer zu wenig Zeit.» Nicht selten denkt er beim Blick auf die Uhr: «Ah shit, schon wieder zwei.»

Total weggetätscht

Zum Drum’n’Bass gekommen ist Nice Nine vor über 20 Jahren. Durch ein klassisches Schlüsselerlebnis: Kennengelernt hatte er das Genre im Radio. Was auf DRS3 um Mitternacht nice tönte, muss doch live noch viel besser sein, dachte er. Also gings mit einem Kumpel eines Abends rüber nach Basel in die Kaserne. Photek, eine Techstep-Legende aus Ipswich, hätte dort auflegen sollen, aber der kam nicht und stattdessen spielte Digital aus ebenda. Und so war es um Nice Nine geschehen: «Ich war stocknüchtern, aber es hat mich total weggetätscht. Irgendwann kam ich wieder zu mir, bachnass vom Tanzen, und wusste: Dieses Gefühl will ich immer wieder haben.»

Ab da ging es vom Rheintal aus, wo er aufgewachsen ist, jedes Wochenende nach Zürich, Bern, Basel. In den Dachstock, ins Hive, ins Rohstofflager. Oder nach Vorarlberg ins Conrad Sohm. «Kein anderer Musikstil hat eine solche Energie», sagt Nice Nine. «Drum’n’Bass ist wie eine Droge, bei der du nie die Dosis erhöhen musst.»

So wurde er vom User zum Dealer und Produzent dieser Droge: zuerst als Drummer der Live-Drum’n’Bass-Band ¡bassda!, später als DJ und schliesslich auch als Produzent der St.Galler Crew Local Bass Movement (LBM), zu der OctaState, SNES und Rumble gehören.

LBM ist seit Jahren ein fixer Teil der St.Galler D’n’B-Szene. Eigentlich sind sie die Szene, denn viel ist davon nicht übriggeblieben. In den 2000er-Jahren gab es mal wieder einen Mini-Hype. Partys in der Legobar, im Kugl oder im Rümp und Jungle-Abende im CMC, aber auch damals war die Community eher klein im Vergleich zum Rest der Schweiz.

nice nine: Tonight’s Flashes, erhältlich bei Bandcamp und allen gängigen Plattformen

nicenine.ch

Auch global gesehen steht Drum’n’Bass nicht gerade an vorderster Billboardfront. Der Bass ist zurück in seine Nische gekrochen, auch wenn er in der Englischen Subkultur noch immer ganz selbstverständlich wummert und in letzter Zeit auch hier wieder vermehrt zu hören ist. «Mit Drum’n’Bass muss man sich auseinandersetzen, man stolpert nicht zufällig hinein», sagt Nice Nine. «Das war vielleicht die Rettung des Sounds. Anders als andere Musikstile wurde Drum’n’Bass nie totalausverkauft.»

Von der Bieridee zum Album

Bei all dieser Leidenschaft und Schaffenskraft: Warum kommt das Album erst jetzt? «Weil ich mich lange nicht getraut habe», meint Nice Nine etwas verlegen. «Und weil die älteren Sachen soundtechnisch noch nicht auf der Höhe waren.» In den vergangenen Jahren habe er sich als Producer weiterentwickelt, auch dank Corona: Partys waren tabu, er suchte nach Alternativen. Zu Beginn war das Album nur eine Bieridee unter Kollegen, doch schliesslich sagte er sich: Warum eigentlich nicht?

Herausgekommen ist eine facettenreiche Werkschau, auf der auch frühere Weggefährt:innen zu hören sind: Das Thurgauer Rap-Duo 3Rad und die Vorarlberger Sängerin Seven Noem, die Nice Nine von seiner Zeit mit ¡bassda! kennt. Von Sommervibes über tetrisartige Flows bis zu düsteren Momenten ist alles dabei. Und da passiert es dann möglicherweise auch ganz plötzlich: Das Tanzbein ist nicht mehr aufzuhalten.

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