, 23. Februar 2021
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«Wir sind bereit»

Wie kann der Neustart in der Kultur gelingen? Das «Basler Modell» schlägt differenzierte Zuschauerzahlen je nach Spielort vor. Ostschweizer Veranstalter*innen begrüssen solche Lösungen. Und sind in den Startlöchern – in Weinfelden, Wil, St.Gallen, Gais oder Mels.

Fotoshooting für das Jugendstück "Schlummerland" des Momoll-Theaters Wil. (Bild: Hans Schneckenburger)

«Wir haben noch nie so wenig gewusst, was passieren wird, wie gerade jetzt.» Jürg Hochuli, Klassik-Veranstalter mit Sitz in Gais, reagiert innert weniger Minuten auf die Fragen, die Saiten in die Runde geworfen hat: wie die momentane Lage für Kulturveranstalterinnen und -veranstalter sei, was sie von den Öffnungs-Modellen halten und wann sie wieder loslassen könnten – wenn sie dürften. Diesen Mittwoch sind vom Bundesrat dazu Präzisierungen zu erwarten.

Hochuli weiter: «Bei jeder noch so bescheidenen Besucher*innenzahl, die amtlich zugelassen wird, wollen wir restarten.» Die Öffnungsmodelle sieht er positiv. Streaming ohne Publikum sei für ihn hingegen «Schnee von vorgestern». Und er kritisiert: «Wir mäandern in der Schweiz im digitalen Mittelalter.»

Bis 30 Prozent in Innenräumen

Am Montag ist in Berlin ein «modularer» Plan vorgestellt worden. Er soll der Politik «einen Weg aufzeigen, wie es zurück gehen könnte», sagte der Gesundheitsökonom Florian Kainzinger. Der Deutsche Bühnenverein, der Deutsche Kulturrat, der Deutsche Fussballbund sowie Konzerthäuser wie das Gewandhaus Leipzig und die Berliner Philharmoniker unterstützen den Plan.

Er sieht für Veranstaltungen in geschlossenen Räumen eine Auslastung von 25 bis 30 Prozent vor, wenn ein Hygiene- und Infektionsschutzkonzept vorliegt, Abstandsregeln eingehalten und durchgehend Masken getragen werden. Zudem müssten personenbezogene Tickets ausgegeben sowie die An- und Abreise gesteuert werden.

Für Freiluftveranstaltungen geht das Konzept von einer möglichen Auslastung von bis zu 40 Prozent aus. Bei mehr als tausend Besuchern soll ein Alkoholverbot gelten. Eine Vollauslastung halten die Experten für möglich, wenn zusätzlich alle Zuschauer vor Ort getestet werden.

Lockerung in Stufen und je nach Raumgrösse

Das Netzwerk Kulturpolitik Basel hat seinerseits ein Konzept für eine gestaffelte Wiederaufnahme des Spielbetriebs ausgearbeitet. Es setzt der pauschalen maximalen Besucherzahl ein differenziertes Modell entgegen, unter Berücksichtigung der räumlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten des Veranstaltungsorts.

Das Konzept wurde insbesondere mit Blick auf die Theater und Orchester, also für bestuhlte Indoor-Veranstaltungen verfasst und von 19 lokalen Organisationen entwickelt, darunter Kaserne, Roxy, Theater, Stadtkino, Stadtcasino etc.

Auch hier sind Masken- und Abstandspflicht, die Organisation von Ein- und Auslass, Sitzpflicht und Contact Tracing zentral. Für die Eruierung der erlaubten Besucher*innenzahl werden Fläche, Raumvolumen und Lüftungskapazität einbezogen. Und die Lockerungen sollen gestaffelt erfolgen: Stufe 1 geht von einer allgemeinen Obergrenze von 50 Personen aus, die je nach Raumgrösse erhöht werden kann. Stufe 2 lässt 100 Personen zu, Stufe 3 schliesslich 300 Personen, ebenfalls flexibel nach oben je nach Raumvolumen und Lüftungskadenz.

Das Basler Modell hält fest: Konzert- und Theaterpublikum verhalte sich im Allgemeinen ruhig, gesprochen werde überwiegend mit Bekannten, und der Aerosol-Ausstoss sei beim blossen Sprechen geringfügig.

Theaterschaffende: «geringes Ansteckungsrisiko»

Der Berufsverband t. Theaterschaffende Schweiz äussert sich in einer Medienmitteilung vom Dienstag ähnlich. Er begrüsse «die Pläne des Bundesrats für eine schrittweise Öffnung der Theater ab dem 1. April 2021 ausdrücklich» – auch wenn sich die Hoffnung, dass die Theater bereits ab März wieder eröffnen können, nicht erfülle.

Studien zeigten, dass die Gefahr einer Ansteckung bei Aufführungen mit Sitz-und Maskenpflicht sowie Abstand sehr gering, auf jeden Fall deutlich geringer als in Restaurants sei, so etwa die Aerosolstudie  des deutschen Heinrich-Hertz-Instituts. «Gestützt auf diese Erkenntnisse erscheint uns eine Wiedereröffnung der Theater unter strikter Einhaltung der ausgearbeiteten Schutzkonzepte absolut vertretbar.»

Die Anzahl des Publikums dürfe dabei nicht starr sein, sondern müsse je nach Veranstaltungsort berechnet werden. «Die baldige Bekanntgabe der genauen Kriterien und der Etappen, in denen sie zur Anwendung gelangen, sind für eine sinnvolle Planung von grösster Wichtigkeit.»

Noch leer: Das Alte Kino Mels. (Bild: pd)

Das Alte Kino wäre parat

Das sieht auch Hans Bärtsch vom Alten Kino Mels so. Die Situation sei natürlich, bei allem Verständnis für die Massnahmen, zermürbend für alle – «schön wäre jetzt, eine Perspektive zu bekommen, um die Saison immerhin mit einigen Gastspielen abrunden zu können».

Die Differenzierung nach Raumgrösse sei sinnvoll. «Ob sich jede Räumlichkeit bis aufs letzte Komma beurteilen lässt bezüglich idealer Kapazitätsauslastung, bleibe mal dahingestellt. Aber der Ansatz ist richtig, weil zum Beispiel eine 50er-Grenze wie im letzten Herbst für die eine Lokalität lächerlich wenig, für eine andere aber schon fast zu gross ist. Die Veranstalter*innen können ihr Haus selber sicherlich gut beurteilen nach all den Erfahrungen innert der letzten zwölf Monate.»

Bei einer Kapazität von 450 Steh- und 240 Sitzplätzen sieht das Coronakonzept im Alten Kino aktuell maximal 120 Plätze vor, ausschliesslich gestuhlt. «Wir könnten eigentlich sofort wieder loslegen, ideal wäre allerdings ein Vorlauf von circa einem Monat, um die Werbung zu lancieren, die freiwilligen Helfer*innen zu rekrutieren usw.», sagt Bärtsch.

Wartet auf Publikum: Die Ausstellung «Città irreale» in der Lokremise, im Bild Arbeiten von Christoph Büchel und Alex Hanimann. (Bild: Sebastian Stadler)

Die St.Galler Lokremise geht (teils) auf

Auch die St.Galler Lokremise «kann ab Tag eins öffnen und das Angebot für unterschiedliche Publikumsgrössen bereitstellen», antwortet Mirjam Hadorn, die Geschäftsführerin des Mehrsparten-Kulturzentrums. Dank der Lockerung für Museen werde die Kunstzone bereits ab Montag 1. März offen sein, die übrigen Orte im Haus, sobald es erlaubt ist.

Die fertig aufgebaute Ausstellung «Città irreale» wird nicht nur eröffnet, sondern auch theatralisch begleitet. «Schauspieldirektor Knecht und sein Team haben richtig reagiert und ihr Schauspielprojekt in einen reinen Audio Walk umgeplant, so dass voraussichtlich ab der 2. Märzwoche die Ausstellung mit Audio Walk besucht werden kann», sagt Mirjam Hadorn.

Zum Neustart der Konzert- und Theaterbühnen müssten statt einer einheitlichen Publikumszahl die räumlichen Verhältnisse berücksichtigt werden. Eine Patentlösung gebe es wohl nicht, meint Mirjam Hadorn; eine 25-Prozent-Auslastung halte sie persönlich aber für eine schlechte Lösung. «Da stehen Aufwand-/Ertrag, Erlebnis- und Spielfreude in keinem Verhältnis. Kultur soll Publikum erreichen können und dürfen, die Interaktion zwischen Publikum und den Menschen auf den Bühnen ist essentiell. Das haben wir in den letzten Wochen mit Streaming-Angeboten aller Art verschiedentlich und deutlich gespürt.»

Noch mit geschlossenem Vorhang: die Kellerbühne St.Gallen. (Bild: pd)

Die Kellerbühne könnte loslegen

«Wir sind jederzeit parat. Sobald es eine klare Weisung gibt, legen wir los mit angepassten Formaten», bestätigt Matthias Peter, Leiter der Kellerbühne St.Gallen. Der Spielplan stehe von April bis Juni – für den März sei es nicht mehr realistisch gewesen, Termine zu fixieren. «Doch falls es, wie von den Kantonen und von der Gesundheitskommission des Nationalrats gefordert, schon ab dem 22. März eine Lockerung gibt, werden wir uns ein Spezialformat einfallen lassen.» Ihre Saison hat die Kellerbühne verlängert bis Ende Juni.

Das «Basler Modell» hält Peter für sinnvoll. Die Kellerbühne habe bereits ein funktionierendes Schutzkonzept «mit einer tollen Sitzplatzsperre». Abende mit grossem Publikumsandrang seien wohl noch nicht gerade angesagt, «aber für kleinere Anlässe sind wir bereit».

Noch unbenutzt: die Sitzreihen im Theaterhaus Thurgau. (Bild: pd)

Theaterhaus Thurgau: «Es braucht Geduld»

«Wir möchten so bald wie möglich wieder Publikum begrüssen dürfen, auch wenn wir den Theatersaal nur zu einem Teil füllen dürfen», antwortet Lena Leuenberger vom Theaterhaus Thurgau in Weinfelden. «Wir sind uns aber bewusst, dass nicht nur die Kultur leidet, sondern auch die Gastronomie, der Tourismus und vieles mehr. Daher üben wir uns in Geduld und hoffen, dass das Publikum wieder kommt, sobald die Veranstaltungen stattfinden dürfen.»

Kulturbetriebe hätten punkto Schutzmassnahmen unterschiedliche Voraussetzungen. Dennoch brauche es einheitliche Regeln, «damit die Menschen noch verstehen, was überhaupt gilt». Das Theaterhaus sei bereit, mit dem Programm zu starten, sobald dies möglich ist. Selbstverständlich gälten dabei die Schutzmassnahmen entsprechend der aktuellen Situation.

«Wenn wir das Haus öffnen können, haben wir ein reiches Programm, da wir viele Veranstaltungen verschieben oder sogar mehrmals verschieben mussten. Die Veranstaltungen warten in dem Sinn darauf, endlich stattfinden zu dürfen. Für wie viele Besucher*innen – das entscheiden die Behörden. Wir haben 104 Plätze. Im Herbst durften wir 75, zuletzt nur 50 Zuschauer*innen haben. Wenn wir nur zu einem Drittel füllen dürfen, wären es noch 34. Auch für 34 Zuschauende würden bei uns Veranstaltungen stattfinden – sofern dies für die auftretende Künstler*innengruppe auch in Ordnung ist», erklärt Lena Leuenberger.

Fotoshooting für Schlummerland des Momoll-Theaters. (Bild: Hans Schneckenburger)

Momoll-Theater: Digital ausgereizt

«Ich möchte einfach ab 1. März dringend wieder proben dürfen. Wir haben schon seit Wochen alles ausgereizt, was wir digital machen können (Tanzprobe, Textproben auf Zoom, Figurenarbeit …) – jetzt geht es nicht mehr weiter ohne direkte Probenarbeit.» Claudia Rüegsegger arbeitet in ihrem Momoll-Theater in Wil mit Jugendlichen. Das Leitungsteam ist zwar professionell, die 13 Schauspielerinnen und Schauspieler sind aber Jugendliche im Alter von 14 bis 20 Jahren. Die über 18-Jährigen, die seit September 2019 für dieses Stück arbeiteten, könnten weder ausgeschlossen noch weggelassen werden. «Da uns ausreichend grosse Räume zur Verfügung stehen und wir zudem bereit sind, mit Maske und Abstand zu proben, sollte aus epidemiologischer Sicht dem eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Und die Jugendlichen lechzen echt danach», sagt Claudia Rüegsegger.

Eine behutsame Öffnung mache Sinn, ebenso, die Zahl der Zuschauenden je nach Raum anzupassen. Ein Theaterpublikum könne während der Aufführung locker eine Maske tragen, rede nicht und schaue in die gleiche Richtung – deshalb wären aus ihrer Sicht auch mehr als 25 Prozent Auslastung möglich. «Nach der langen Zeit des Sonderzustandes wird es vielen aber nicht wohl sein, plötzlich direkt neben Fremden zu sitzen – ich glaube nicht, dass eine Öffnung mit Vollbesetzung auf Anklang stossen würde.»

Die Premiere des neuen Momoll-Stücks Schlummerland ist auf 24. April geplant. «Früher können wir eh nicht starten. Aber später auch nicht, weil dann einige Jugendlichen in ihren Abschlüssen stecken und danach ein neues Leben anfangen.» In der riesigen Lokremise in Wil wären 50 bis 70 Besucher*innen schön, findet sie. «Und vertretbar.»

Residenzen statt Konzerte: St.Galler Palace. (Bild: pd)

Palace: Wohlbefinden steht an oberster Stelle

«Die aktuelle Situation bringt viele Fragen mit sich, unter anderem über Relevanz, Flexibilität, Planungssicherheit», antwortet Fabian Mösch, Co-Programmleiter des St.Galler Kulturlokals Palace. Einfach so zu öffnen, könne er sich zur Zeit aber nicht vorstellen. Planung ohne genaue Vorgaben – 10, 15, 50 Leute? Sitzend? Mit oder ohne Konsumation? – mache wenig Sinn. «Wir wollen lieber einen Rahmen abstecken, sobald wir genauer wissen, wie wir spannenden Inhalten sinnvoll, respektvoll, intim und als aufregendes Erlebnis einen Raum geben können. Das Wohlbefinden aller Besucher*innen, Künstler*innen, Palace-Mitarbeitenden steht an oberster Stelle.»

Aktuell bietet das Palace Raum für musikalische Residenzen und macht Fernsehen. Live-Anlässe wolle man bieten, sobald wieder ein respektvoller Umgang für alle Beteiligten möglich sei. «Die Besucher*innen fehlen dem Palace, um einen Ort der Begegnung und des Austauschs zu sein. «Lieber aber vorerst nichts überstürzen – Veranstaltungen, so wie sie im vergangenen Herbst möglich gewesen sind, können wir uns auch jetzt wieder vorstellen, bringen aber erneut grossen Aufwand mit sich.»

Warten auf Gäste: Gare de Lion. (Bild: pd)

Gare de Lion: Ohne Publikum geht nichts

«Für den Gare de Lion ändert sich vorerst nichts. Die geplanten Veranstaltungen werden laufend verschoben oder abgesagt. Natürlich warten wir darauf, endlich wieder öffnen zu können.» Mike Sarbach von der Programmleitung des Wiler Clubs ist skeptisch, was die verschiedenen Öffnungsmodelle betrifft: «Viel wichtiger wäre für uns Planungssicherheit. Wir brauchen eine Perspektive, wann (voraussichtlich) wieder welche Art von Veranstaltungen stattfinden kann. Regelmässig Kulturveranstaltungen mit nur 50 Gästen durchzuführen, bleibt selbstredend hoch subventionierten Institutionen vorbehalten.»

Anders der Gare de Lion: Er finanziert sich hauptsächlich durch Partybetrieb und Gastronomie. «Da müsste man schon mit mindestens 200 Gästen planen können, also knapp 50 Prozent Belegung. Ohne diese Einnahmen ist es uns nicht möglich, die Defizite der geplanten Anlässe in den Bereichen Kleinkunst, Literatur und Konzert zu decken.»

Der Gare de Lion wäre aber auch dafür vorbereitet, in einem ersten Schritt Gastronomiekonzepte wie eine Neuauflage der Outdoor-Bar de Lion umzusetzen. Grundsätzlich aber gelte: «Das Programm bis Ende Jahr steht und im Fall der Fälle könnten kurzfristig noch weitere Veranstaltungen aufgegleist werden.»

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