, 7. Januar 2021
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Ein Literaturhaus für alle – auch für alle Gender

Seit November leitet die Verlegerin Anya Schutzbach das Literaturhaus Wyborada in St.Gallen. Was sie hier plant, wie das Buch überlebt und warum trotz Digitalisierung ein eigenes Haus auf längere Sicht nötig ist: Das Interview aus dem Januarheft.

Anya Schutzbach im Studio der Frauenbibliothek Wyborada. (Bilder: Tine Edel)

Sie hatten beim Suhrkamp Verlag eine leitende Stelle, haben 2008 ihren eigenen Verlag weissbooks.w gegründet und ihn letztes Jahr mit dem Zürcher Unionsverlag zusammengeführt. Jetzt verlassen Sie weissbooks.w – warum?

Anya Schutzbach: Die Grundidee des Zusammenschlusses war, dass sich zwei Verlage mit unterschiedlichen Programmschwerpunkten zusammentun, der Unionsverlag mit internationaler Literatur, weissbooks.w mit deutscher Gegenwartsliteratur. Die beiden Profile passten ideal ineinander, doch der Aufbau eines weissbooks.w-Programms liess sich nicht wie geplant realisieren, ebenso die Übernahme von Verantwortungen für den Gesamtbetrieb. Darum kamen beide Seiten überein, sich zu trennen.

Die Fusion hat Sie also die Stelle gekostet?

Ja.

Was passiert mit den verlagslos gewordenen weissbooks-Autorinnen und -Autoren und ihren Büchern?

Die Betreuung des bestehenden WB-Programms erfolgt weiterhin durch den Unionsverlag.

Was war Ihre wichtigste Entdeckung bei weissbooks.w?

Eine davon ist Pia Solèr, die allerdings weniger Autorin ist als vielmehr Hirtin. Ihr Buch Die Weite fühlen erzählt von ihrer Arbeit auf der Alp mit 1300 Schafen und ist das, was man einen Longseller nennt. Eine ganz andere Entdeckung ist ein deutscher Autor namens Christoph Höhtker, der seit 20 Jahren in Genf lebt. Ein scharfsinniger, kluger und provozierender Geist, der sich in vielem nicht an die sogenannten Regeln hält. Sein jüngster Roman heisst Schlachthof und Ordnung. Manche lesen ihn als Dystopie, letztlich aber ist es eine grosse Groteske, dazu irrwitzig komisch. Definitiv nichts Weichgespültes in einer Welt, in der viel Immergleiches und Gleichgeschaltetes zu lesen ist. Ich habe eben auch ein Faible fürs Krasse, für Autoren, die etwas wagen.

Nach den grossen Verlagen und Städten jetzt die kleine Ostschweiz und das kleine Literaturhaus Wyborada – was war Ihre Motivation?

Das «klein» steht für mich unbedingt in Anführungsstrichen. Das «Kleine» ist möglicherweise nur Teil der Selbstwahrnehmung derer, die sich von hier aus in Relation setzen. Ich habe das Privileg, noch mit einem ersten Blick auf die Region zu schauen. Der zeigt mir, dass Potential da ist. Nach 25 Jahren Verlegerei ist mein Auge darauf gepolt, Potentiale zu erkennen, Dinge zu entdecken und zu schauen, was man daraus machen kann. Von Zürich oder Basel aus wird die Ostschweiz wenig wahrgenommen, insbesondere im Literaturbetrieb. Das fordert mein unternehmerisches Aufbau-Gen heraus.

«Mediennutzung ist auch Entertainment»: Anya Schutzbach.

Es gibt wenige Autorinnen und Autoren mit nationaler Ausstrahlung, es gibt kaum Verlage in der Ostschweiz – kein Wunder, wird sie nicht wahrgenommen.

Möglicherweise zurecht, vielleicht fehlt eine Institution oder ein grösseres Festival mit stärkerer Strahlkraft, ein literarisches Zentrum, das anlockt. Namhafte Autorinnen und Autoren, die mit der Ostschweiz in Verbindung zu bringen, gibt es aber schon, es fallen einem gleich Robert Walser ein, Dorothee Elmiger, Anna Stern, um nur mal drei mit nationaler Ausstrahlung zu nennen.

Immerhin hat St.Gallen seit einem Dutzend Jahren das Wortlaut-Festival.

Möglicherweise mache ich mich unbeliebt, wenn ich gestehe, dass ich es nicht stark wahrgenommen habe, in meiner Verlagsarbeit hatte ich nie einen Berührungspunkt. Das liegt sicher nicht am Programm, sondern vielleicht daran, dass die Vernetzung auf PR-Ebene nicht schweizweit griff? Man muss neben einem aufregenden Programm eben auch immer ziemlich laut trommeln. Hinzu kommt, dass es dauert, bis sich Wahrnehmung und Wirkung einstellen. Das Literaturhaus Basel gibt es rund 20 Jahre, jenes in Zürich noch länger. Diese Städte haben früh verstanden, dass sich eine Investition in die Sparte Literatur langfristig lohnt. Heute sind sie die Leuchttürme. Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn Wortlaut mehr nationale Beachtung finden würde. Das Festival ist ein wichtiges Element im Muster des Literaturteppichs der Region.

Und die Verlage?

Es ist sicher eher schwer, sich aus der sogenannten Provinz heraus als Verlag nationale Anerkennung zu verschaffen. Dennoch ist es möglich, im Kern zählt die Qualität des Programms. Ein erschwerender Faktor könnte vielleicht die fehlende physische Nähe zu den Leitmedien sein, dieses Tür an Tür und die Möglichkeit täglicher und persönlicher Begegnung. Vernetzung ist überlebenswichtig für das, was wir tun. Verlage sind Kommunikationsmaschinen. Nun schwächeln zwar die Printmedien seit geraumer Zeit, auch die öffentlich-rechtlichen Radiosender kommen meines Erachtens ihrem Kultur- und Bildungsauftrag nicht mehr in dem Masse nach, wie sie es sollten und auch einmal konnten. Vom Programmumbau des Radio SRF2 will ich gar nicht reden. Dass eine für uns alle im Literaturbetrieb so wichtige Sendung wie «52 beste Bücher» abgeschafft werden soll, ist ein Jammer. Aber es ist interessant, wie sich Literatur-Berichterstattung und Literaturkritik verändert haben, wie wichtig zum Beispiel die Bloggerszene geworden ist oder der Einfluss der Bookstagrammer.

Soziale Medien, die auch ohne regionale Bindung funktionieren – das könnte ja gerade ein Vorteil für die «Provinz» sein. Was empfiehlt die Verlegerin Schutzbach den Ostschweizer Verlagen, damit sie auf Touren kommen?

Jeder Verlag muss sich ganz unabhängig davon, wo er sitzt, rund um die Uhr die Frage stellen: Was müssen wir tun, dass unsere Bücher wahrgenommen werden? Alle arbeiten an Strategien, die grossen wie die kleinen, da die Umsätze seit Jahren stagnieren oder sinken. Eine Studie des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels 2018 hat ergeben, dass der Buchhandel 6,4 Millionen Leser innerhalb von fünf Jahren verloren hat. Verloren an andere Medienformate, allen voran an die Anbieter von gutem Storytelling, Netflix & Co. Mediennutzung ist eben auch Entertainment, Freizeitgestaltung, Stofflieferant für soziale Teilhabe. Heute spricht man an den Bushaltestellen oder bei einer Tischgesellschaft darüber, was man gesehen hat, weniger über das, was man gerade liest. Der Austausch über Bücher hat sich zum Teil ebenfalls ins Netz verlagert, lovelybooks ist nur ein Beispiel. Verlage verfolgen das akribisch und bespielen aktiv diese Szenen.

Trotzdem ist das Buch alles andere als tot…

Absolut! Es gibt sie immer noch, die echten und passionierten Leserinnen und Leser. Das gedruckte Buch ist auch nicht abgelöst worden durch das E-Book. Das professionelle Storytelling der populären Serien, dem man sich fast nicht entziehen kann, ist nun auch auf den Buchmarkt angekommen. Die Bücher auf den Bestsellerlisten sind meist einfach sehr gut erzählte Geschichten. Die elitäre, anspruchsvolle Literatur hat es jetzt noch schwerer. Unser Leben ist so komplex geworden, dass das Bedürfnis nach Vereinfachung, nach reiner Unterhaltung, nach leicht Konsumierbarem, vermutlich gestiegen ist. Ich bin zwar keine Soziologin und kann diesen Wandel auch nicht belegen, aber beobachten und nachvollziehen. Und jetzt kommt Corona als ein neuer die Gesellschaft und ihr Freizeitverhalten verändernder Faktor hinzu.

Blick in den Bibliotheksraum der Wyborada.

Sie reden von «elitärer Literatur»: ein streitbarer Begriff. Sind die einen Bücher Unterhaltung – und die anderen elitär?

Der Begriff ist streitbar, weil er pauschalisiert. Man muss da natürlich differenzieren. Aber auch in der Literatur gibt es E und U. Ich bin aufgewachsen in einer Zeit, als die E-Literatur sexy war. Dürrenmatt, Bachmann, Beckett, Bernhard, Kafka – sie alle erreichten Auflagen, die heute eher im U-Bereich üblich sind. Auch innerhalb der Verlage fand Abgrenzung statt. Bei Suhrkamp war es zunächst ein Politikum, ob eine Isabel Allende ins Suhrkamp-Programm passt. Hier hat ein grosser Wandel stattgefunden, Werte werden anders definiert. Auch Feuilletons sind heute viel offener und ohne Dünkel. Oder Museen: Sie programmieren weniger akademisch und versuchen, Museen für alle zu sein.

Gibt es eine «Literatur für alle»? Auch wenn sich die Grenzen zwischen E und U aufweichen, hat doch die sperrige Literatur ein Problem.

Ich würde das nicht als Problem bezeichnen. Verlage, Buchhändler, Veranstalter, Agenten wissen, dass es für beides ein Publikum gibt. Auch wir in den Literaturhäusern bieten Abende, die unterhalten, entspannen, bereichern, Spass machen, gleichzeitig sehen wir zu, dass literaturkritische Diskurse geführt werden oder ambitionierte Blogs ihren Raum finden; das Spektrum ist breit. Ein Literaturhaus für alle muss den Spagat beherrschen und beides machen.

Das ist die Ambition?

Meine Ambition ist ein Haus mit Anspruch, das lustvoll herausfordert. Mit einem Anspruch, der nicht ausgrenzt und nicht einengend ist, sondern offen wie das O in der Mitte unseres Namens, vom Regionalkrimi bis hin zu einer Poetikdozentur, die man dereinst etablieren könnte.

Deutschsprachige Literatur erreicht nur die, die gut Deutsch können. Hat das Literaturhaus auch Platz für internationale, für migrantische Literatur?

Ich bin überzeugt, dass gerade eine starke migrantische Literatur entsteht, die unsere Gegenwartsliteratur enorm bereichern wird; ich bin sehr neugierig darauf. Bei weissbooks.w erschien das Buch von Luna Al-Mousli, einer syrischen Autorin, die in Wien lebt, Eine Träne. Ein Lächeln. Meine Kindheit in Damaskus. Wir brachten das zweisprachig, arabisch-deutsch, inzwischen liegt die vierte Auflage vor. Die Autorin wird immer noch eingeladen, in Schulen mit gemischten Klassen zu lesen. Es entstehen Dialoge zwischen den deutsch- und den arabischsprachigen Schülern, die ungemein berührend sind. Was ein Buch alles leisten kann! Aber ich mache mir nichts vor: Migrantische Kreise mit Lesungen zu erreichen ist nicht einfach. Man kann Türen öffnen, aber es muss auch jemand hineinkommen wollen. Hier gibt es immer noch Hemmschwellen. Sicher auch, weil viele gar nicht wissen, was das eigentlich ist: ein Literaturhaus.

Ja: Was ist ein Literaturhaus?

Ein Literaturhaus bietet Veranstaltungen an, die mit Büchern zu tun haben. Ein Autor oder eine Autorin kommt und liest aus ihrem Buch vor, jemand führt ein Gespräch mit ihm oder ihr, das Publikum hört zu und stellt manchmal Fragen. Abstrakter, bzw. differenzierter formuliert: Ein Literaturhaus bietet Plattformen für Kommunikation, die inhaltliche Basis liefert die Literatur, der Umgang mit Sprache, meist Text. In einem Literaturhaus geht es ums Lesen, Vorlesen, Zuhören. Man kann Lieblingsautoren treffen oder neue Bücher entdecken. Es geht um Geschichten, wahre und erfundene. Im Literaturhaus kann auch Literatur entstehen: Patricia Holder und Karin Bühler haben in ihrer Aufbauphase Schreibkurse eingeführt, das möchte ich gern fortsetzen.

Was für neue Formate planen Sie?

Langfristig möchte ich zum Beispiel ein Exchange Programm aufbauen. Autoren, Übersetzerinnen, Verleger von «weit her», was immer das dann heisst, einladen und den hiesigen Pendants Aufenthalte in der Welt der Gäste ermöglichen. Ein einfaches Modell, aber ein komplexer und langwieriger Etablierungsprozess. Ein erstes Projekt, das in diese Richtung weist, ist in Arbeit: Ich bemühe ich mich, das «Literarische Forum», das traditionsgemäss in Wangen im Allgäu stattfindet, nach St.Gallen zu holen. Am Forum lesen jeweils zehn bis zwölf Autoren aus unveröffentlichten Texten, es wird juriert wie in Klagenfurt und vor Publikum – nur ohne anschliessende Preisverleihung. Es ist ein intensiver Tag der Literatur und der Literaturkritik. Der Anlass musste wegen des Lockdowns in Deutschland zwei Mal verschoben und dann ganz abgesagt werden. Ich hoffe, dass es möglich ist, die Teilnehmer des Forums 2019 Ende Januar oder im Februar hierher einladen und ihnen gewissermassen Asyl gewähren zu können. Es waren so viele gute Texte darunter!

Es gibt bereits Literaturhäuser in Schaan und in Gottlieben. Arbeiten Sie zusammen?

So sehr jedes Haus sein eigenes Profil hat und den lokalen Gegebenheiten Rechnung tragen muss, so fruchtbar kann Zusammenarbeit sein. Mit dem Kollegen in Gottlieben stehe ich schon in Kontakt. Ich setze auf Offenheit und Kooperation, denn ich glaube nicht, dass wir uns gegenseitig Publikum wegnehmen. Anne Weber wird zum Beispiel im März in Bregenz lesen und am Folgetag bei uns zu erleben sein. Grosse Namen und internationale Gäste gemeinsam einzuladen ist doch sinnvoll vor dem Hintergrund der höheren Organisationskosten.

«Ja: Wir brauchen ein Haus»: Anya Schutzbach.

Braucht das Literaturhaus Wyborada überhaupt ein Haus? Die Idee mit der Villa Wiesental ist geplatzt; zur Diskussion steht das ehemalige Hotel Ekkehard.

Ein deutliches Ja: Wir brauchen ein Haus. Natürlich hat es Charme, ein fliegendes Haus zu sein. Langfristig sind jedoch eine feste Adresse und Räume nötig, um sich als Institution zu etablieren. Obschon es die Adresse Davidstrasse 42 gibt – hier ist die Frauenbibliothek Wyborada beheimatet, von hier aus operieren wir – kann das fürs Literaturhaus nur eine Übergangslösung sein. Wir können im Studio der Bibliothek nur kleine Veranstaltungen realisieren und kaum jemandem einen Kaffee anbieten. Es ist darum geplant, die Gespräche in Sachen Ekkehard wieder aufzunehmen, aber ich bin noch nicht lange genug hier, um mehr dazu sagen zu können.

Wie finanziert sich die Wyborada?

Mit einem städtischen und einem kantonalen Beitrag sowie diversen kleineren Förderungen und unseren Mitgliedsbeiträgen. Wir wollen das Fundraising ausbauen, um ein Programm möglich zu machen, das nicht marginal bleibt. Vor allem müssen wir kurzfristig in Technik investieren, um ansprechende digitale oder hybride Formate zu entwickeln. Ich möchte in den Zeiten, in denen keine öffentlichen Veranstaltungen möglich sind (und künftig auch parallel zu diesen) Publikum über Streams erreichen können. Diese Form der Teilnahme ist vom Literaturhaus-Publikum andernorts recht schnell akzeptiert worden. Auch Festivals wie Solothurn oder der Bachmann-Wettbewerb fanden in diesem Jahr online statt – mit Erfolg.

Literatur ist seit jeher die günstigste aller Sparten.

Ja, das ist so; man vergleiche einmal unsere Budgets mit jenen der grossen Theaterhäuser. Bereits mit bescheidenen Fördersummen kann jeder, der lebendige Literatur möglich machen möchte, einen Beitrag leisten.

Wenn die Digitalisierung weiter vorankommt, braucht die Wyborada vielleicht also doch kein Haus?

Ob mit oder ohne Haus: Ohne eine digitale Parallelspur wird es künftig nicht mehr gehen. Ebenso wenig wird es gehen ohne Begegnung und Austausch im wirklichen Leben. Ich möchte kein virtuelles Literaturhaus sein – und arbeite darum auch an Plänen für den Fall, dass Veranstaltungen innerhalb von vier Wänden uns noch länger versagt bleiben.

Gehört die Wyborada nicht in die künftige «public library» von Kanton und Stadt?

Die Frauenbibliothek Wyborada kann ich mir gut vorstellen als integrierte Spezialbibliothek, das wäre durchaus organisch. Aber ich bin keine Bibliothekarin, und diese Frage ist ohnehin Sache des Vereins und meiner Kollegin Karin Bühler, die die Bibliothek leitet. Das Literaturhaus ist aber unabhängig von den Plänen für eine «public library» zu sehen. Eine Bibliothek hat primär einen Bildungsauftrag, ein Literaturhaus ist primär Veranstalter. Ich sehe da ein symbiotisches Nebeneinander. Auch Frankfurt hat mit der Deutschen Nationalbibliothek eine grosse «public library», in der Veranstaltungen stattfinden, und ein starkes Literaturhaus.

Aktion der queer-feministischen Berthas* im Treppenhaus der Wyborada.

Die Wyborada ist als feministisches Projekt gestartet. Mehr als dreissig Jahre später: Sind eine Frauenbibliothek und ein Frauenliteraturhaus noch zeitgemäss?

Jein. 1986 war die Gründung einer Frauenbibliothek ein klar politisches, feministisches Statement. Und diese Bibliothek hat nach wie vor Zulauf, die Kolleginnen berichten sogar von einer deutlichen Zunahme vor allem junger Frauen. Insofern ist sie durchaus zeitgemäss! Wir haben es heute mit einer anderen Art von Feminismus zu tun, mit anderer Kommunikation, einem anderen Selbstbewusstsein und einer anderen gesellschaftlichen und medialen Akzeptanz. Auch wenn das Literaturhaus der Frauenbibliothek entspringt, ist es doch kein «Spezial»-Literaturhaus, sondern eines für alle Gender. Anders kann ich Literatur nicht denken. Unabhängig von dieser mich einengenden Frage stelle ich aber fest: Viel interessante Literatur kommt momentan tatsächlich von Frauen.

Woran liegt das?

Gute Frage. Es fällt auf, wieviel mehr Aufmerksamkeit den Frauen insgesamt, nicht nur im Kulturbetrieb, inzwischen zuteil wird. Das hat sich deutlich sichtbar auch in der Programmplanung der Verlagshäuser niedergeschlagen. Es ist ein Zeichen dafür, dass dieser lange Kampf der Frauen um Sichtbarkeit langsam Früchte trägt. Das gibt mir die Hoffnung, dass wir darüber bald gar nicht mehr reden müssen, dass sich Selbstverständlichkeit einstellt, ohne Aufregungen. Wenn ich ein Buch lese, frage ich offen gestanden nicht primär danach, wes Genders Kind dieser Text ist.

Aber es gibt Prägungen.

Ich bin beruflich in einem total männlichen Umfeld sozialisiert. Bei Suhrkamp hatte ich es fast nur mit Männern zu tun, auch auf Autorenseite. Ich war eine der ersten drei Frauen in der sogenannten Postkonferenz, dem Kreis der Abteilungsleiter um Siegfried Unseld. Diese Über- und Dauerpräsenz von Männern ist mir als junge Frau nicht weiter aufgefallen, es war «normal». Diese «Normalität» kommt nun scheinbar an ihr Ende.

Es fällt auf, dass Sie oft von «Autoren» sprechen und die Frauen mitmeinen. Genderneutrales Sprechen müsste an einem Ort wie der Wyborada aber doch selbstverständlich sein.

Wenn ich schreibe, versuche ich inzwischen konsequent gendergerecht zu bleiben. Beim Sprechen kommt mein Sprachfluss dadurch aber deutlich ins Ruckeln. Im Sprechen sind für mich grundsätzlich die Frauen immer mitgemeint, ich erachte das eigentlich als eine Selbstverständlichkeit. Wie ich die historische Figur Wiborada verstehe, stand auch sie allen, den Armen und Reichen, den Männern und Frauen, den Kranken und Gesunden gleichermassen fürs Gespräch zur Verfügung; sie kannte keine Frauenquote.

Sehen Sie sich als Feministin?

Ich stehe für die Sache der Frauen ein. Aber ich bin keine Feministin. Der Begriff hat für mich eine leise Aura von Militanz. Und das ist für mich der falsche Ansatz, wenn wir über Literatur sprechen. Literatur hat andere Möglichkeiten, Anliegen durchzusetzen. Sprache hat andre Möglichkeiten, sie ist der Schlüssel zu Veränderungen. Um zu erkennen, welche Gräben es gibt zwischen Männern und Frauen, brauchen wir eine ausdifferenziertere Sprache, jenseits von normierten Begriffen. Entscheidend sind die Nuancen.

Ihr Buchtipp: Was sollen wir in der nächsten Zeit lesen?

Wir sollten uns mit dem Thema «Künstliche Intelligenz» anfreunden. Es gibt zwei Bücher, die ich kürzlich gelesen habe. Den unterhaltsamen und spannenden Roman von Emma Braslavsky, Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten und den neuen Roman von Martina Clavadetscher mit dem schönen Titel Die Erfindung des Ungehorsams; er erscheint im nächsten Frühjahr, die Autorin wird bei uns zu Gast sein. Wie sich die Literatur auf fiktionalem Weg vortastet in eine Welt, die unsere Realität stark beeinflussen wird, ist schon ziemlich aufregend. Und da ich den «Körper» im weitesten Sinne – also auch Themen wie Ernährung, Fasten, das Sterben, Fleisch – in den Fokus meines Programms des ersten Halbjahres 2021 stelle, wird auch die KI ihren Auftritt haben, als ein Leben (oder wie man das dann nennt) ohne Körper.

Anya Schutzbach, 1963, stammt aus Überlingen am Bodensee. Sie hat Japanologie, Sinologie, Politologie und Neue Deutsche Literatur in Bonn, Frankfurt und Tokio studiert, als Übersetzerin und Dolmetscherin gearbeitet und war später zwölf Jahre für Suhrkamp und Insel tätig. Zuletzt war sie Verlegerin des von ihr zusammen mit dem ehemaligen Suhrkamp-Kollegen Rainer Weiss gegründeten Independent-Verlag weissbooks.w, der im vergangenen Jahr an den Zürcher Unionsverlag überging. Heute lebt sie in Zürich und wieder in der alten Heimat Überlingen.

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