, 11. Dezember 2020
1 Kommentar

Wie ein Baum im Bergwald

Immunium® Akut #11: Peter Müller rät, sich Notizen zu machen. Erlebnisse, Beobachtungen und Geschichten, Reflexionen und Einsichten aufzuschreiben.

In diesen Corona-Zeiten das geistig-seelische Immunsystem kräftigen? Für mich heisst das vor allem: eine Haltung einnehmen und immer wieder an ihr arbeiten, mit meinem Denken, Fühlen, Reden, Schreiben, mit meinem Tun im Alltag, in meinen Begegnungen und Beziehungen.

Es geht darum, einigermassen fest und gerade zu stehen, aber auch lebendig zu bleiben, im «Netz alles Lebendigen» – wie ein Baum im Bergwald. Die stoischen Philosophen der Antike redeten von «epimeleia» oder «askesis» (Übung, Training) und sahen in der lebenspraktischen Bewährung im Alltag den eigentlichen Beleg für ein philosophisches Leben.

Wie schaffe ich es einigermassen unbeschadet durch diese Monate der globalen Pandemie? Was sind meine Pflichten gegenüber meinem Umfeld und mir selber? Und woran soll ich mich halten bei der praktischen, sachlichen Einschätzung der ganzen Krise?

Nach vier Wochen Lockdown notierte ich mir, inspiriert von den «Delphischen Sprüchen», den berühmten Merksätzen aus dem antiken Heiligtum von Delphi, ein paar knappe Sätze: «Gib den Dingen Zeit… Überblicke Deine Spielräume… Gutes gibts immer… Du kannst nicht alles kontrollieren… Vertraue Deinem inneren Kompass… Sei dankbar… Lass Dich nicht verrückt machen… Setze einfach Tag an Tag… Was weisst Du schon…».

llustration: Joël Roth und Zéa Schaad

Solche Notizen helfen mir, einen Umgang mit diesem Jahrhundert-Ereignis zu finden, diesem gigantischen, monströsen «stillen Sturm», der jeden von uns in seinen eigenen Ausnahmezustand schickt. Als Historiker und Journalist notierte ich mir in den letzten Monaten natürlich noch Anderes: Erlebnisse, Beobachtungen und Geschichten, Reflexionen und Einsichten. Sie helfen mir zum Beispiel, die eigene Situation zu relativieren und in grössere Zusammenhänge einzuordnen, in globale etwa oder in medizingeschichtliche. Vieles davon – ich muss es zugeben – ist auch schlicht spannend, ja aufregend.

Corona zeigt, wie wir als Individuen, Gesellschaften und Staaten funktionieren, welche Stärken und Schwachstellen wir haben, welche Prioritäten wir setzen, welche ungelösten Fragen und Probleme wir mit uns herumschleppen. Ich bin mir sicher: Nicht wenige spätere Historikerinnen und Journalisten werden uns dafür beneiden, dass wir das alles live miterleben konnten.

Zu den möglichen Folgen der Pandemie hingegen möchte ich mich nicht äussern – das wäre reine Spekulation. Ein Punkt nur: Gegenüber dem Gedanken, dass Corona die Menschen zu einem Umdenken bewegen kann, bin ich skeptisch. Viele – so fürchte ich – werden nach dem Abklingen der Pandemie in die alten Muster zurückfallen: Hyperaktivismus, Konsum und Mobilität, Hektik und Lärm, Egoismus, Gier, Bequemlichkeit, Gedankenlosigkeit.

Die antiken Stoiker meinten, viele Menschen in guten, ja besten Verhältnissen führen in Wahrheit ein Sklavenleben. Sie sind Sklaven ihrer Begierden und Ängste, ihrer persönlichen Probleme, ihrer Sachzwänge. Auf das Abklingen der Corona-Pandemie bezogen heisst das: Wenn man genau hinhört, hört man dann vielerorts wieder die unsichtbaren Sklavenketten klirren.

Peter Müller, 1964, ist Historiker und Journalist in St.Gallen.

Saiten hat sich zum Jahresschluss ein Heft zur Immunstärkung vorgenommen. Wir wollten Anregungen und Überlegungen aller Art zur politischen, gesellschaftlichen und individuellen Kräftigung des Immunsystems sammeln.

Zusammengekommen sind 24 Beiträge aus allen möglichen Richtungen, ein Adventskalender der resistenten Art: Kurzgeschichten, Selbsterfahrungen, Appelle, Wutausbrüche, Tiefgang und Smalltalk, Rezepte und Rezeptverweigerungen. 24 Stimmen, 24 Seiten, eine geballte Dosis Immunium® Akut, garantiert mit Risiken und Nebenwirkungen.

1 Kommentar zu Wie ein Baum im Bergwald

  • Hoare Susanne sagt:

    Lieber Peter Müller, ich kenne die Delphischen Sprüche nicht, aber was du dazu notierst, wird mich im neuen Jahr stärken!
    Danke! Susanne

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Impressum

Herausgeber:

 

Verein Saiten
Gutenbergstrasse 2
Postfach 2246
9001 St. Gallen

 

Telefon: +41 71 222 30 66

 

Hindernisfreier Zugang via St.Leonhardstrasse 40

 

Der Verein Saiten ist Mitglied des Verbands Medien mit Zukunft.

Redaktion

Corinne Riedener, David Gadze, Roman Hertler

redaktion@saiten.ch

 

Verlag/Anzeigen

Marc Jenny, Philip Stuber

verlag@saiten.ch

 

Anzeigentarife

siehe Mediadaten

 

Sekretariat

Isabella Zotti

sekretariat@saiten.ch

 

Kalender

Michael Felix Grieder

kalender@saiten.ch

 

Gestaltung

Data-Orbit (Nayla Baumgartner, Fabio Menet, Louis Vaucher),
Michel Egger
grafik@saiten.ch

 

Saiten unterstützen

 

Saiten steht seit 30 Jahren für kritischen und unabhängigen Journalismus – unterstütze uns dabei.

 

Spenden auf das Postkonto IBAN:

CH87 0900 0000 9016 8856 1

 

Herzlichen Dank!