, 4. Oktober 2020
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Ein Zauberer wird 80

Das St.Galler Kinok ehrt Fredi Murer, der am 1. Oktober seinen 80. Geburtstag gefeiert hat, mit einer Retrospektive. Am Dienstag ist er dort zu Gast. von Geri Krebs

Szene aus Höhenfeuer. (Bild:pd)

Ein halbes Jahrzehnt ist vergangen, seit Fredi Murer sich von der Filmszene zurückgezogen hat. Sein letzter Film, die vertrackte Alterstragikomödie Liebe und Zufall, lief 2014 in den Kinos. Doch verschwunden ist der unglaublich vitale Jubilar seither nicht. So ehrte ihn etwa das Filmfestival Locarno 2019 mit einem «Pardo alla carriera» – und wer damals diesen begnadeten Geschichtenerzähler und Zauberer auf der Piazza Grande und im überfüllten Spazio Cinema erlebte, wird diesen Auftritt nicht vergessen.

Das wird auch am 6. Oktober so sein, wenn Murer im Kinok aus seinem Leben und seinen Filmen erzählt und vielleicht auch einen seiner Magiertricks vorführen wird. Der Begriff «Bilderzauberer» ist ein eher abgegriffener. Dabei gibt es wohl keinen anderen Schweizer Filmemacher – Murer nennt sich selber so auf seiner Visitenkarte –, auf den nicht nur der Begriff zutrifft, sondern der auch einer ist, der seine Enkel mit realen Zauberkunststücken zu erfreuen vermag.

Daheim im Experimentalfilm

Was den Bilderzauberer Murer betrifft, so sehe man sich nur wieder einmal Höhenfeuer an, sein Opus Magnum von 1985. In dem Inzestdrama aus den Urner Bergen mit dem taubstummen «Bueb» als Protagonisten fällt bis zu zehn Minuten lang kein einziges Wort. Umso mehr ziehen einen dafür die Kamerafahrten des 2019 verstorbenen Kameramanns Pio Corradi mit ihren in jeder einzelnen Einstellung millimetergenau cadrierten Bildern unweigerlich in ihren Bann. Nicht umsonst schwingt der Film in Ratings immer wieder obenauf, wurde schon mehrfach zum «besten Schweizer Film aller Zeiten» gekürt.

 

Dabei ist Murer, 1940 in Beckenried NW geboren, einen sehr weiten Weg gegangen. «Meine geistige Heimat ist der Experimentalfilm», erklärte er letztes Jahr im Gespräch und erzählte dann, wie er mit 17 aus Altdorf UR, wohin seine Eltern 1946 gezogen waren, ins grosse und fremde Zürich gekommen war. Hier machte er, der zuvor in der Schule wegen seiner Legasthenie in den sprachlichen Fächern immer furchtbar Mühe hatte, an der damaligen Kunstgewerbeschule eine Ausbildung als wissenschaftlicher Zeichner.

Später wechselte er in die Fotoklasse, weil er an der legendären Ausstellung «Der Film» 1960 im Kunstgewerbemuseum in den Filmen Nanook of the North und Man of Aran des Pioniers Robert J. Flaherty den Beschluss fasste, Filmemacher zu werden. Und andererseits war es sein dortiger Lehrer, Serge Stauffer, der den angehenden Filmer motivierte, ein Filmfestival in der belgischen Stadt Knokk le Zoutte zu besuchen, dem damaligen Mekka der Experimentalfilmer.

Murer startete dann bald selber erste filmische Versuche mit surrealistischen Kurzfilmen und war dabei, als 1966 die Solothurner Filmtage gegründet wurden – mit einem vier Stunden dauernden Experimentalfilm, Pazifik oder die Zufriedenen, gedreht in jener ersten Zürcher WG, wo er damals lebte. «Ein abendfüllender und kinoleerender Film», schrieb die NZZ.

In den folgenden Jahren eckte Murer in Solothurn noch öfter an mit verspielt-anarchistischen Filmen, die er teilweise mit später so bekannten Künstlern wie Urban Gwerder, Alex Sadkowski oder H.R. Giger realisierte. In jenen Nach-68er-Jahren habe ein ernstzunehmender Film mit einem Zitat von Marx anfangen und mit einem von Lenin enden müssen, spottet Murer. «Doch Ideologie hat mich nie interessiert, ich wollte immer eigenständige, persönliche Filme machen», betont er.

«Hau ab nach Moskau!»

Eindrücklich bewies er das 1974 mit seinem ersten Kinodokumentarfilm Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind. Ganz im Sinne seines Idols Flaherty näherte Murer sich hier mit ethnografischem Blick seinen Protagonisten – Urner Bergbauern – und liess sie für sich selbst sprechen.

Retrospektive Fredi Murer:
4. bis 30. Oktober, Kinok St.Gallen

Gespräch mit Fredi Murer:
6. Oktober, 19 Uhr, Kinok St.Gallen

kinok.ch

Und als er fünf Jahre später mit seinem ersten Kinospielfilm Grauzone ein atmosphärisch dichtes Bild einer von Orientierungslosigkeit und Anpasserei geprägten Schweiz zeichnete, das vieles vorwegnahm, was kurz darauf zum Ausbruch der damaligen 1980er Jugendbewegung führte, musste er drastisch erfahren, wie ernst man ihn nahm: «Wenn Sie solche Filme machen, müssen Sie sich ja nicht wundern», beschieden ihm Polizisten auf einem Zürcher Posten, als er Anzeige gegen Unbekannt erstattet hatte, weil bei ihm ein Pflasterstein mit einem Zettel und der Aufforderung «Hau ab nach Moskau!» in sein Schlafzimmerfenster geflogen und tags darauf an seinem parkierten Auto die Radmuttern entfernt worden waren.

In seinen letzten Jahren als Filmemacher musste sich Murer dann mehr mit jungen Mitgliedern von Fördergremien herumschlagen, die ihm erklären wollten, wie man einen Film macht, als mit wild gewordenen Bürgern oder Polizisten. Doch Murer ist einer, der sich heute dank seines mit Abstand kommerziell erfolgreichsten Films Vitus (2006) zurücklehnen und sagen kann: «Ich bin froh, dass ich nicht
aus ökonomischen Gründen darauf angewiesen bin, weiterhin Filme zu drehen.»

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.

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