, 8. September 2020
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Im Grenzland

Was bedeutet Zuwanderung für eine Grenzregion? Saiten hat bei Rheintaler Unternehmen, in einer Beiz, bei der Spitalregion, in einer Musikschule und bei den Nachbarn nachgefragt und festgestellt: Kaum jemand ist für die SVP-Begrenzungsinitiative. Zumindest trauen sich die Befürworter nicht an die Öffentlichkeit.

Zuwanderung und Grenzgängerei haben entscheidend zur strukturellen Entwicklung des Rheintals beigetragen. (Bild: Vision Studios, Balgach)

Feuchte Hitze drückt in diesen Augusttagen aufs Rheintal, bevor sich am Abend die Wolken entleeren und die Bäche und den Rhein wieder einmal bedrohlich ansteigen lassen. In Ufernähe an Kriesserns Dorfrand steht ein moderner Industriebau. Die Hallen und Büros des Grossdruckmaschinen-Herstellers SwissQprint sind klimatisiert. Es ist kühl und fast unheimlich ruhig. In der Montagehalle klimpert nur leise ein Lokalradiosender, vielleicht Radio Vorarlberg. Ab und zu huscht einer der letzten verbliebenen Monteure durch die Halle.

Eigentlich müssten hier rund 110 Angestellte monatlich bis zu 15 Grossformatdrucker entwickeln, zusammenbauen und verkaufen. Doch seit April steht die Produktion praktisch still, ein Grossteil der 40 Montagearbeiter, die Logistik und der Service sind auf Kurzarbeit. Entwicklung, Verkauf und der Rest der Firma arbeiten voll.

Der Geschäftsführer, ein schlanker, bedachter Mann, ist alles andere als ein Polterer, wie man sich den archetypischen Rheintaler Patron ausmalen könnte. Stets diplomatisch – nicht ein einziges Mal nennt Reto Eicher im Gespräch die SVP beim Namen, auch dann nicht, wenn er leise über sie schimpft.

«Das letzte, was wir jetzt brauchen können, sind Scherereien mit der EU.»

Reto Eicher, Unternehmer

Eicher führt durch die fast komplett stillgelegten Produktionshallen. «Es ist schon ein trauriges Bild», sagt der Mitgründer und CEO der Firma mit leicht belegter Stimme. «Druckmaschinen sind Investitionsgüter. Die Pandemie bringt eine grosse Verunsicherung mit sich, jetzt investiert niemand.» Die Zeit wird genutzt, um die eigenen Produkte weiterzuentwickeln. Es bleibt nichts anderes übrig. Die Bestellungen sind um zwei Drittel zurückgegangen. In Kriessern werden noch die letzten vier oder fünf Maschinen zusammengebaut.

«97 Prozent unserer Artikel exportieren wir, 60 Prozent davon nach Zentraleuropa. Das letzte, was wir jetzt brauchen können, sind Scherereien mit der EU.» Eicher spricht die Begrenzungsinitiative der SVP an, die – wieder einmal – die Personenfreizügigkeit mit der Europäischen Union torpediert. Aus dem Vorarlberg arbeiten sechs, aus Süddeutschland vier Personen bei SwissQprint, der Grenzgängeranteil ist verhältnismässig klein. Eicher stört vor allem die zusätzliche Unsicherheit, die ein vertragsloser Zustand mit der EU mit sich bringen würde. Denn fällt die Personenfreizügigkeit, fallen aufgrund der sogenannten «Guillotinenklausel» auch die anderen Vereinbarungen der Bilateralen 1.

Das Rheintal sei vom Export und Arbeitskräften aus der EU abhängig. Das gelte nicht nur für Fachkräfte, sondern gerade im Rheintal ebenso für Arbeiten, für die es schon immer schwierig war, inländisches Personal zu finden: Pflege, Bau, Reinigung. Bezüglich Einwanderung immer von «Massen» zu reden, sei reiner Populismus. Eicher fragt sich, ob die Initianten wirklich «Politik fürs Volk» machen oder ob sie nicht einfach um jeden Preis im Gespräch bleiben wollen. Sogar zum Preis eines zerrütteten Verhältnisses mit dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz.

Von Indianern und Rassisten

Direkt gegenüber der SwissQPrint, auf der anderen Seite der Zollstrasse, stehen die Werke der GK Grünenfelder AG. Die Firma ist spezialisiert auf Kühl- und andere Nutzfahrzeuge und produziert. Die Frech-Hoch Nutzfahrzeuge AG im basellandschaftlichen Pratteln gehört ebenfalls zur Grünenfelder Group. Kunden sind zu einem guten Teil die Grossverteiler in der Schweiz, Aufträge kommen aber auch aus der militärischen Logistik im In- und Ausland.

In den Werken Kriessern wird fleissig gehämmert, geschraubt, zusammengebaut. In einer Ecke zischt ein Schweissroboter. Die Pandemie hat sich im Geschäftsgang der Grünenfelder AG noch nicht bemerkbar gemacht. Keine Kurzarbeit. Dafür gelten die Hygienemassnahmen bis heute. «Ich bin nur fürs Interview hergekommen. Ansonsten wäre ich im Homeoffice, in meinem Raumschiff», sagt Albert Grünenfelder, Finanzchef der GK Grünenfelder AG und Mitgründer der Holding GK Grünenfelder Group AG. Die Produktions- und Revisionsaufträge für dieses Jahr sind zum grossen Teil vor dem Lockdown eingetroffen. Im vierten Quartal und für das ganze nächste Jahr dürften die Grossverteiler ihre Investitionen herunterfahren.

Die Anteile der Wertschöpfung und der Arbeitsleistung in der Schweiz sind hoch, darauf ist man stolz. «Die Konkurrenz hat uns auch schon vorgeworfen, dass wir alles im Ausland herstellen lassen. Ich habe sie dann eingeladen und ihnen den Schweissroboter und den Rest der Produktion gezeigt. Das Thema war schnell wieder vom Tisch», sagt Grünenfelder, der im Elternbetrieb die Lehre zum Fahrzeugschlosser gemacht hat und weiss, «wie ein Hammer klöpft».

«In uns allen steckt womöglich ein bisschen ein Rassist.»

Albert Grünenfelder, Unternehmer

In Kriessern sind knapp 50 Personen angestellt, in Pratteln rund 20. Altersmässig gut durchmischt, «Erfahrung und Arbeitsqualität spielen eine Rolle», so Grünenfelder. Auch ausgebildet wird in der Firma, zwei Lehrlinge pro Jahrgang. Schweizer Männer und Frauen seien heute ehrgeizig, bilden sich weiter. Im technischen Büro und in der Arbeitsvorbereitung arbeiten heute sechs junge Männer mit Ingenieurs- und Technikerabschlüssen. «Das sind Häuptlinge», sagt Grünenfelder. «Aber wir brauchen eben auch Indianer. Die Schweizer Indianer gehen immer mehr verloren.»

Vor allem in Pratteln, wo der Anteil an Grenzgängern aus dem Elsass hoch ist, ist man von den Bilateralen und der Personenfreizügigkeit abhängig. Auch das Rheintal sei ein klassisches Grenzgängergebiet. «Schon als ich noch ein Kind war, hat man viel im Vorarlberg rekrutiert», sagt Grünenfelder. Für Vorarlberger sei es heute aber nicht mehr gleich attraktiv, in der Schweiz zu arbeiten wie noch vor ein paar Jahren. «Die gestiegene Kaufkraft relativiert das Lohngefälle.» Heute arbeiten bei ihm in Kriessern noch zwei Grenzgänger, das sei früher ganz anders gewesen.

Dennoch: «Was die SVP aufführt, ist lachhaft und macht politisch keinen Sinn. Man kann doch nicht überall Grenzen aufziehen. Die Wirtschaft muss wie ein Ameisenhaufen frei zirkulieren können.» Grünenfelder kann nachvollziehen, dass «das Fremde» in den Menschen grundsätzlich Unsicherheiten auslösen könne. «In uns allen steckt womöglich ein bisschen ein Rassist.» Aber man müsse schon auch sehen, dass das Wachstum und der Wohlstand im Rheintal seit den 1960er-Jahren ohne Arbeitskräfte aus Italien und Portugal gar nicht möglich gewesen wären.

Auch das Lohndumping-Argument lässt Grünenfelder nicht gelten. «Wir unterstehen dem Gesamtarbeitsvertrag. Wenn beispielsweise ein Ungar weniger Lohn erhielte als seine Schweizer Kollegen, wäre das erstens nicht rechtens und zweitens sind die Menschen nicht dumm und würden das am ersten Arbeitstag merken.»

Die SVP ziert sich

Das Rheintal ist auch Agrarland. Im frühen August ist der Weizen bereits eingefahren. Die Traktoren bremsen den spärlichen Durchgangsverkehr durchs Riet mit Heuladungen. Der Mais steht noch. Man nennt ihn hier Türggen, weil das südamerikanische Gewächs im 17. Jahrhundert über den Balkan in die Region gelangte. Der Ribel ist aus der traditionellen Rheintalerküche nicht mehr wegzudenken. Bis man sich der ursprünglichen Herkunft von etwas oder jemandem nicht mehr bewusst ist und es als etwas Heimisches betrachtet, ziehen gerne Jahrhunderte ins Land.

Die Abstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) 2014, die von 50,3 Prozent des Schweizer Stimmvolks angenommen wurde, war im Wahlkreis Rheintal keine knappe Angelegenheit. Mike Egger, der damals für die SVP im Kantonsrat wirkte, hat sich an Podien und Anlässen landauf landab stark gemacht für die Initiative. Dass sie aber im Rheintal mit 63 Prozent kantonsweit am deutlichsten angenommen wurde, hat selbst ihn überrascht.

«Wir wollen kein Sozialprojekt der EU sein. Wir sind Partner auf Augenhöhe.»

Mike Egger, SVP-Nationalrat

Egger ist mittlerweile in den Nationalrat nachgerutscht und führt derzeit den Abstimmungskampf für die Begrenzungsinitiative im Kanton St.Gallen. Der Bernecker erscheint gut gelaunt und gewohnt jovial unter den Sonnenbräuschirmen im Garten des elterlichen Gast- und Metzgereibetriebs. Er grinst mit seinem eigenen Konterfei um die Wette, das seit vergangenem Wahlherbst auf seinem Auto prangt. Obwohl die Beiz noch geschlossen hat, setzt sich ein Büezer an den Nachbartisch. Er werde warten, sagt er, schweigt fortan und beginnt im «Blick» und im «Rheintaler Boten» zu blättern, einer Zeitung aus dem Regionalmedienimperium, das Christoph Blocher in den vergangenen Jahren aufgebaut hat.

«Da ist noch gar nichts verloren», sagt Egger rundheraus. In seiner Aussage klingt nicht nur der Optimismus eines Abstimmungskampfleiters an. Er weiss, dass die politischen Gegner diesmal nicht schlafen. Das sind nebst dem Bundesrat alle anderen Parteien von links bis bürgerlich sowie die bedeutendsten nationalen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände. Egger glaubt an den Sieg, auch wenn sich im Rheintal kaum jemand öffentlich für die Initiative aussprechen will. «Das bedeutet gar nichts, das war schon bei der MEI so», winkt er ab.

Tatsächlich ziert sich sogar die Rheintaler SVP. Egger ist der einzige, der sich zum Gespräch mit Saiten bereit erklärt. Der Vorstand der Kreispartei reichte unsere Anfrage an ihn weiter, obwohl mehrere Personen um ein Interview gebeten wurden. Nationalrat Roland Rino Büchel hat keine Zeit. Auch er verweist an Egger. Dieser sagt, er kenne zwar ein paar Unternehmer, die für die Begrenzungsinitiative seien, allerdings wolle keiner von ihnen mit den Medien reden.

So schlüpft Egger in die Rolle, die seiner Partei so gut liegt. Einer gegen alle: «Wir wollen kein Sozialprojekt der EU sein. Wir sind Partner auf Augenhöhe. Die Personenfreizügigkeit stimmt für uns so nicht. Also können wir das doch verhandeln. Es kann nicht sein, dass der Grössere einfach nein sagt.» Die 12 Monate, die der Bundesrat bei einem Ja zur Initiative hätte, um die Personenfreizügigkeit neu zu verhandeln, sei zwar knapp bemessen aber nötig, damit die Sache nicht wieder auf die lange Bank geschoben werde wie bei der MEI.

Wo liegt denn das Problem mit der Zuwanderung? «Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit 2007 sind 620’000 Personen aus dem EU-Raum eingewandert. Das sind knapp 50’000 pro Jahr. Der Bundesrat hat im Vorfeld von 8000 bis 10’000 gesprochen. Wollen wir eine 10-Millionen-Schweiz?» Vor allem ältere Arbeitnehmer gerieten unter Druck, ebenso die Löhne, und mit Überbrückungsrenten wolle man jetzt diese Probleme intern lösen, die eigentlich der Zuwanderung geschuldet sind. Ausserdem handle es sich bloss zu einem sehr tiefen Prozentsatz um tatsächliche Fachkräfte. Der grösste Teil sei Familiennachzug, diese Fakten müsse man schon sehen. «Seit 2007 sind die Sozialkosten massiv angestiegen. Auch das geht vor allem aufs Konto der Zuwanderung.»

Was ist mit der Vertragsunsicherheit, wenn die Verhandlungen scheitern und die Guillotineklausel greift? «Ich bin nicht sicher, ob diese tatsächlich greifen würde. Die EU hat ihrerseits grösstes Interesse an den Bilateralen.» Egger führt etwa das Verkehrsabkommen und das Landwirtschaftsabkommen ins Feld. Die EU profitiere von effizienten Transporten durch die Schweiz nach Italien. Und die Schweiz verzeichne seit Jahren eine negative Handelsbilanz mit der EU. «Wir wollen uns ja nicht abschotten, sondern lediglich die Einwanderung eigenständig steuern.»

Zudem garantiere das Freihandelsabkommen von 1972 den Marktzugang zur EU. Höchstens bei den technischen Handelshemmnissen könnte es Probleme geben, räumt er ein: «Die Produkte für den europäischen Markt könnten wohl nicht mehr in der Schweiz zertifiziert werden, sondern nur noch in der EU. Darin sehe ich aber keine grossen Probleme, sondern lösbare.»

Ein Drittel Ausländer beim Spitalpersonal

Die Debatte über die Begrenzungsinitiative verläuft auch nach den Sommerferien eher lau. Die grossen Gehässigkeiten bleiben aus – zumindest bis Redaktionsschluss. Sind die Leute die immergleichen Anti-Zuwanderungsinitiativen leid, für die die SVP die immergleichen Argumente auftischt? Ist es Corona, das die öffentliche Aufmerksamkeit für sich einnimmt? Oder glaubt am Ende nicht einmal die SVP-Basis so richtig an den Sinn und Zweck dieser Abstimmung? Darauf gibts bei der Sünnelipartei keine Antworten.

«Grenzgängerei gehörte schon immer zum Rheintal. So sind wir eben aufgewachsen.»

Sandra Zieri, Personalchefin Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland

Im ri.nova Impulszentrum in Rebstein, einem feudalen Bau aus der Stickereizeit, findet sich ein vielfältiger Mix an Gewerbe- und Dienstleistungsbetrieben: Versicherung, Elektriker, Homöopathiepraxis, Tonstudio, Architekturbüro, Consultings unterschiedlicher 
Prägung. Auch die Spitalregion Rheintal Werdenberg Sarganserland, zu der die Spitäler Altstätten, Grabs und Walenstadt gehören, hat hier ihre zentralen Büros. Sandra Zieri leitet die Personalabteilung.

«Wir wären wesentlich von einem Ja zur Begrenzungsinitiative betroffen», sagt sie. Ende Juli sind 1550 Personen in der Spitalregion angestellt, die Altersdurchmischung ist mit 456 Ü50-Jährigen ziemlich ausgewogen. Rund ein Drittel der Angestellten sind keine Schweizer, 13 Prozent Grenzgänger aus Deutschland, Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein.

Etwas über die Hälfte der ausländischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiten in der Pflege. «Wir haben oft bis zu 30 Stellen ausgeschrieben. Ärzte und Spezialkräfte für Operationsassistenz, Anästhesie oder in der Intensivpflege sind immer gefragt», sagt Zieri. Von den 75 Neueintritten im August haben 35 keinen Schweizerpass. Den administrativen Aufwand für all die Qualifikationsnachweise, der mit einem Ja zur Initiative auf ihr Team zukommen würde, will Zieri sich gar nicht ausmalen.

Für die Spitäler sind die Grenzgängerinnen existenziell wichtig. «Natürlich bilden wir selber Fachkräfte aus. Dennoch sind wir oft knapp besetzt. Das gilt sowohl für die Ärzteschaft als auch für die Pflegekräfte.» Wenn man in der Schweiz kein Personal finde und die Rekrutierung im Ausland kontingentiert werde, müsse man sich schon fragen, in welche Richtung es gehen solle.

Auf ihre persönliche Meinung angesprochen, ob sie die Motive der Initianten und die Ängste der Leute vor übermässiger Zuwanderung verstehen könne, zögert Sandra Zieri kurz. «Grenzgängerei gehörte schon immer zum Rheintal. Mein Grossvater kam aus dem Fürstentum Liechtenstein, meine Grossmutter aus dem Vorarlberg. So sind wir eben aufgewachsen.» Beim Spitalpersonal zähle aber nicht die Herkunft, sondern die Qualifikation, betont Zieri. Wenn in der Schweiz keine qualifizierten Mitarbeiter gefunden werden können, dann muss man eben ennet dem Rhein suchen.

Rekrutierung in Kreisen

In den Produktionshallen der SFS in Heerbrugg ist der regelmässige Rhythmus der Pressen ständiger Begleiter. In jeder Halle in einem anderen Tempo und in anderer Lautstärke. «Das ist unser Herzschlag», sagt Claude Stadler, früher Leiter der Unternehmenskommunikation und Investor Realtions, seit 2018 Leiter Corporate Services. Über verschiedene Stufen werden die Metallteile hochpräzise in ihre Form gebracht. Kaltumformung nennt sich die Technologie, die den einstigen Eisenwarenhändler und späteren Schraubenhersteller gross gemacht hat.

Weitere Technologien sind in den Jahren dazugekommen. Längst werden nicht mehr nur Schrauben hergestellt. Heute sind es beispielsweise Präzisionskomponenten, die in Autos wichtige Funktionen übernehmen: in Bremssystemen, Sicherheitsgurten, Ventilsteuerungen oder Sitzverstellungen. «Die Vision des autonomen Fahrens bedeutet für uns einen stabilen Innovationstrend mit Wachstumsperspektiven», erklärt Stadler, der aus einer der Gründerfamilien stammt. Mit rund 35 Milliarden weltweit verkaufter Produkte wurde 2019 ein Umsatz von knapp 1,8 Milliarden Franken erwirtschaftet.

Weltweit beschäftigt die SFS-Gruppe rund 10’000 Personen, etwa ein Viertel davon in der Schweiz. Am grössten Standort des Konzerns in Heerbrugg arbeiten rund 1700 Personen. Rund 1000 Mitarbeiter in der Schweiz haben keinen Schweizer Pass, ungefähr die Hälfte davon sind Grenzgänger. Mit Firmen wie Wild und später der Leica entstand im unteren Rheintal in den letzten Jahrzehnten ein Nukleus für Feinmechanik. Das hat die regionalen Strukturen beeinflusst, beidseits des Rheins sind mechanisch-technische Berufe weitverbreitet. Aber die Nachbarn haben wirtschaftlich enorm aufgeholt. «Vorarlberg bietet sehr gute berufliche Perspektiven», schätzt Stadler die Lage ein. «Dennoch rekrutieren wir wie alle Unternehmen primär in einem bestimmten geografischen Kreis, der über den Rhein hinaus geht. Daraus einfach einen Halbkreis zu machen, wäre fatal.»

90 bis 95 Prozent der Heerbrugger Produktion gehen in den Export, vornehmlich in die EU. Local-to-local-Strategie nennt sich das. Nur in bestimmten Fällen werden Teile in einem Kontinent produziert und in einem anderem Kontinent verkauft. «Wir bekennen uns zum Standort Schweiz und haben uns dafür auch bewegt», erklärt Stadler. Die Aufwertung des Schweizer Frankens in den letzten 15 Jahren sei eine enorme Fitnesskur gewesen für die Firma. «Keine Zeit zum Fett ansetzen.»

«An den Schweizer Produktionsstandorten fokussiert sich SFS auf Leistungen mit hohem Innovationsanspruch, die hoch automatisierbar und kapitalintensiv sind.» Für SFS rückte mit einem Ja zur Initiative die Frage stärker ins Zentrum, was noch in der Schweiz produziert werden könne. Damit solle den Initianten nicht gedroht werden. «Aber wir geben einfach etwas aus der Hand, das wir kennen und viele Vorteile bietet. Als die Initiative lanciert wurde, war die Welt zudem eine andere. Mittlerweile stellt Corona bereits eine enorme Belastung für die wirtschaftliche Entwicklung dar.»

Vorarlberger und östlichere Klänge

500 Meter südwestlich der SFS steht zwischen dem Sportplatz und der Turnhalle der Oberstufe die Musikschule Mittelrheintal. Schulleiter Roland Stillhard setzt sich in den Schatten der Kastanien an einen der steinernen Picknick-Tische. «Die Gründung der Musikschule 1978 wäre ohne die Fachkräfte aus nahen Ausland gar nicht denkbar gewesen», sagt er. In den 80er-Jahren habe sich aber auch in Süddeutschland und in Vorarlberg ein Fachkräftemangel abgezeichnet. Also hat man Musiklehrkräfte aus Ungarn geholt. Diese werden jetzt langsam pensioniert.

Über ein Drittel der 51 Lehrkräfte an der Musikschule Mittelrheintal verfügen nicht über den Schweizerpass. Acht wohnen in der Schweiz, 18 sind Grenzgänger. «Manchmal erhalten wir Bewerbungen aus dem Raum Zürich. Aber wir reden hier von Teilzeitstellen. Diese Leute bleiben nicht lange. Wir sind also auf Ausländer angewiesen.» Und für diese sei der administrative Aufwand schon jetzt «heavy».

«Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie einschneidend sich nur schon eine kurzzeitige Grenzschliessung auswirkt.»

Marco Tittler, Vorarlberger Landesrat (ÖVP)

Karin Keller-Sutters rhetorische Frage («Wollen Sie Wohlstand?») hält Stillhard aber für übertrieben. Qualität spiele ebenso eine Rolle. Der Lockdown habe gezeigt, man brauche den grenzüberschreitenden Austausch, die gesellschaftliche und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Auch Musikunterricht trage seinen Teil zum gesellschaftlichen Zusmmenhalt bei, sagt Stillhard. Für die regionale Kulturszene sei die Nachwuchsförderung entscheidend, es könne ja nicht jeder in die Stadt zum Unterricht.

Und was sagen die Nachbarn zur Begrenzungsinitiative? Das Thema sei auf der politischen und medialen Agenda nicht sonderlich präsent, findet Landesrat Marco Tittler, den wir per E-Mail erreichen. Er ist in der Vorarlberger Regierung für die Bereiche Wirtschaft und Infrastruktur zuständig. 2019 wurde der ÖVP-Politiker ins Amt gewählt. Er stehe seither zwar im regelmässigen Austausch mit seinen St.Galler Regierungskollegen, aber über die Begrenzungsinitiative der SVP habe man sich bisher noch nicht unterhalten.

Im Rahmen der Internationalen Bodenseekonferenz, der auch St.Gallen angehört, sei aber eine Resolution «für Kontinuität sowie stabile und gute Rahmenbedingungen in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit» verabschiedet worden. Man wünsche sich, dass Massnahmen verzichtet werden, «welche das Potenzial für eine negative Dynamik im Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU haben könnten».

Die Abwägung der Vor- und Nachteile der Personenfreizügigkeit sei ein komplexer Prozess und persönliche Betroffenheit spiele dabei wohl eine entscheidende Rolle, schreibt Landesrat Marco Tittler. Die Möglichkeit sich in Europa frei bewegen, studieren oder Fachkräfte – gerade im Gesundheitsbereich und im Bauwesen – rekrutieren zu können, werde aber sehr geschätzt. Für die Prosperität des wirtschaftlich eng verflochtenen Raums seien Stabilität und gute Rahmenbedingungen auf nationalstaatlicher und supranationaler Ebene essenziell. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, wie einschneidend sich nur schon eine kurzzeitige Grenzschliessung auswirke.

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