, 4. Juni 2020
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Die es am härtesten trifft

«Viele fallen durch die Maschen»: Die Kulturbranche appelliert an Bundesrat und Parlament, die Corona-Hilfsmassnahmen zu verstärken und zu verlängern. Und ein Offener Brief von Autorinnen und Autoren schlägt ein zeitlich befristetes Grundeinkommen vor.

Die Argumente gleichen sich. Erstens: Die Kulturbranche oder Kreativwirtschaft ist ein unverzichtbarer Wirtschaftsfaktor. Und zweitens: Mit der Coronakrise ist die Kultur als erste ausser Gefecht gesetzt worden – und wird als letzte wieder auf Touren kommen.

Mit diesen Argumenten wird zur Stunde in Bern Druck gemacht. Einerseits hat sich die «Task Force Kultur» im Namen von Dutzenden von Branchenverbänden an National- und Ständerat gewandt und fordert zusätzliche und langfristige Hilfe für das «Ökosystem Veranstaltung». Andrerseits hat der Bundesrat einen Offenen Brief von Kulturschaffenden erhalten, die ein temporäres Grundeinkommen für Betroffene ins Spiel bringen – anstelle der verschiedenen Notmassnahmen, die einen «gigantischen Verwaltungsaufwand» mit sich brächten.

Zwischen den Stühlen

Der Appell der Task Force Kultur ist unterzeichnet von der Präsidentin des Schweizer Musikrats, Rosmarie Quadranti, dem Thurgauer Künstler Alex Meszmer, Präsident des Dachverbands Suisseculture, von Christoph Trummer (Musikverband Sonart), Sandra Künzi (Theaterverband t.) und Christoph Breitenmoser (Swiss Music Promoters Association SMPA). Er spricht im Namen diverser Verbände, vom Dachverband der Musicclubs und Festivals Petzi oder dem Berufsorchester-Verband bis zu den Literatur- und Tanz-Organisationen.

Den Offenen Brief haben unabhängig davon vier Autorinnen und Autoren lanciert: Monica Cantieni, Bettina Spoerri, Sunil Mann und Rudolph Jula. Prominent unterstützt wird er von der Musikerin Vera Kaa, der Wortakrobatin Patti Basler, dem Filmemacher Rolf Lyssy, dem Schriftsteller Peter Stamm und vielen weiteren.

Der Appell der Task Force Kultur nennt Zahlen:

Die Kulturwirtschaft generiert einen Gesamtumsatz von rund 70 Milliarden Franken jährlich und eine Wertschöpfung von rund 22 Milliarden.

In der Kreativwirtschaft sind in über 70’000 Betrieben (oder knapp zwölf Prozent aller Betriebe) mehr als 275’000 Personen beschäftigt.

Das sind 5,5 Prozent aller Beschäftigten, vergleichbar mit der Finanz- oder Tourismusbranche.

«Wir fordern keine Sonderbehandlung. Aber wir brauchen Massnahmen, welche die besondere Situation der Kultur berücksichtigen», heisst es im Appell der Verbände. In einer solchen schwierigen Situation seien namentlich die sogenannten Freischaffenden: Künstlerinnen und Künstler, die weder festangestellt noch formell selbständigerwerbend sind, fallen durch die Maschen der Ausfallentschädigung. Andrerseits brach für Personen mit eigener GmbH und damit «arbeitgeberähnlicher Stellung» per Ende Mai die Kurzarbeits-Entschädigung weg, gemäss Bundesratsentscheid von letzter Woche – davon seien zahllose Labels, Agenturen, Verlage, Veranstalter, Dienstleister, Zulieferer etc. betroffen. Keine Hilfe gibt es auch für private Musik-, Tanz- oder Kunstschulen, die in ihrer Existenz bedroht seien.

Viele Akteure im Kulturbereich müssten daher trotz anfänglicher Hilfsversprechungen heute feststellen, «dass sie im System der Corona-Hilfe nicht vorkommen». Zudem drohe im Veranstaltungsbereich ein Ausnahmezustand weit über die ersten Lockerungen hinaus – mittel- und langfristig könnte sich die soziale Not noch verschärfen.

Fünf Punkte nennt die Task Force. Der Corona-Erwerbsersatz für Selbstständige muss weitergeführt werden, und die Kurzarbeit für Kultur-Unternehmen soll andauern, bis wieder Normalbetrieb herrscht. Drittens sollen auch Nothilfe und Ausfallentschädigungen bis zur Normalisierung weiter angeboten werden. Auf Ausfallentschädigungen müssten auch Selbständigerwerbende Anspruch erheben können. Und schliesslich müsse die Nothilfe für Härtefälle längerfristig gesichert sein.

Seit dem Lockdown herrsche in der Kulturbranche eine «Dauerverunsicherung», heisst es im Appell abschliessend. Um diese zu beheben, bieten sich die Verbände als Gesprächspartner für die Behörden an – bisher hätten ihre Anliegen nämlich kaum Gehör gefunden.

Im Rat sind die Forderungen der Kulturbranche hingegen angekommen: Das Parlament hat am Donnerstag unter anderem eine Aufstockung des Kredits für Ausfallentschädigungen für Kulturunternehmen und Kulturschaffende um 50 Millionen Franken beschlossen.

Systembedingt mit Minimal-Einkommen

Mit dem ökonomischen Gewicht der Kreativwirtschaft argumentiert auch der Offene Brief an den Bundesrat – im Kontrast dazu stehe der tiefe Medianlohn von rund 40’000 Franken. Mindestens die Hälfte der professionellen Kulturschaffenden lebe in prekären Verhältnissen – und dies nicht aus mangelndem Fleiss oder Talent, sondern systembedingt, weil rund die Hälfte der Einkommen über Honorare gerechnet wird.

Wer bisher schon wenig verdiente, komme mit den Corona-Massnahmen noch einmal schlechter weg. Taggelder von einigen wenigen Franken für geringverdienende Selbständige seien keine Lösung. Zudem sei das Regelwerk aus EO, Soforthilfe und Ausfallentschädigungen bürokratisch und wirklichkeitsfremd, es berücksichtige die langfristigen Einkommensverluste nicht und biete keine Rechtssicherheit. Deshalb brauche es eine schnelle und praktikable andere Lösung.

Diese heisst gemäss den Autorinnen des Briefs: ein Festbetrag von mindestens 2’300 Franken über sechs Monate für Kulturschaffende und andere Solo-Selbständige. Dieses befristete «Grundeinkommen» könnte sich am Modell der Militär-Erwerbsersatzordnung orientieren. Über die Steuerklärung und andere Belege soll eruiert werden, wer Anspruch darauf erheben kann. Grossbritannien kenne eine solche Covid-Zahlung von 2500 Pfund monatlich; das Land Berlin zahle einmalig 5000 Euro. Beiträge wie diese leisteten «Hilfe zur Selbsthilfe».

Was heute in der Schweiz geschehe, sei «ein Selektionsprozess, bei dem die sozial Schwächeren noch einmal benachteiligt werden», schreiben die vier Erstunterzeichnenden. Dies gefährde die Stimmenvielfalt und Diversität und damit das Selbstverständnis einer Demokratie.

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