, 25. Mai 2020
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Im luftleeren Raum

Auf einen Schlag ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Perspektive – die Ostschweizer Sans-Papiers Sarnai und TseTseg* erzählen, welche Folgen die Coronakrise für sie hat.

Bild: Saitengrafik

Schön, wenn der Staat Notkredite gewährt, wenn wir Kurzarbeit anmelden und einige Rechnungen stunden können. Schön auch, dass wir uns trotz allfälliger finanzieller Nöte in ärztliche Behandlung begeben können, falls wir uns anstecken oder sonstwas passiert.

«Wir», das sind die Leute mit einem geregelten Aufenthaltsstatus. Doch was ist mit den Sans-Papiers? Für sie ist die Coronakrise noch um einiges existenzieller als für den Rest der wohlhabenden Schweiz. Der Bund rechnet mit schweizweit bis zu 105’000 Personen, genauere Erhebungen gibt es nicht, die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Im Kanton St.Gallen leben je nach Schätzungen zwischen 800 und 3000 Menschen ohne Bleiberecht.

Das Virus hat sie ausgesperrt

Mitte Mai treffen wir zwei papierlose Frauen aus Zentralasien, nennen wir sie Sarnai und TseTseg. Sie sind 32 und 37 und seit einem Jahr beziehungsweise seit neun Monaten in der Ostschweiz. «Ich kann nicht mehr arbeiten», sagt Sarnai, «das macht mein Leben schwierig.» Vor der Coronakrise hat sie in diversen Privathaushalten geputzt, für einen Stundenlohn von 25 Franken. So hat sie im Monat etwa 1000 Franken verdient. Ihre Freundin TseTseg hat an sechs Tagen pro Woche einen älteren Herrn versorgt, für ihn gekocht, aufgeräumt, seine Wäsche und den Haushalt gemacht, ist mit ihm spazieren gegangen, hat ihm die Zeit vertrieben. «Ich mochte die Arbeit sehr», sagt sie. «Zwölf Stunden am Tag sind zwar viel, aber er hat mich immer sehr gut behandelt.» 1500 Franken hat sie so jeden Monat verdient.

Jetzt schweben die beiden im luftleeren Raum. Sarnais Arbeitgeberinnen haben Angst, dass sie das Virus von Haushalt zu Haushalt transportieren könnte, und lassen sie darum bis auf weiteres nicht mehr bei sich putzen. Auch TseTsegs «Schützling» sorgt sich wegen Corona und hat ihr darum Mitte März gekündigt – auch weil sein Sohn dank Homeoffice nun öfter bei ihm vorbeikommen kann. Sarnai hat eine kleine Wohnung, TseTseg ein Zimmer bei Bekannten. Beide wissen nicht, wie sie die Miete für den Juni bezahlen sollen, ganz zu schweigen von Nahrungsmitteln und anderen Dingen des täglichen Bedarfs.

Am 28. April haben Jenny Heeb (SP) und Christian Huber (Junge Grüne) ein Postulat zur «Einführung einer städtischen Identitätskarte für alle Stadtbewohner*innen» eingereicht. Nach dem Vorbild der «Züri City Card» soll dieser Ausweis für alle in St.Gallen lebenden Menschen gelten und nicht nur Sans-Papiers bei der Einforderung ihrer Rechte unterstützen, sondern auch Vergünstigungen zu öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken, Kulturorten oder Sportanlagen beinhalten, um für die gesamte Stadtbevölkerung attraktiv zu sein. Sie bitten sie den Stadtrat darum, die rechtlichen Abklärungen zu treffen und Bericht darüber zu erstatten, wie und in welcher Form die Einführung einer «St.Galler City Card» realisiert werden kann.

Mehr zum Thema im Janaurheft von Saiten.

Mehr zur IG Sans-Papiers St.Gallen: igsanspapierssg.ch

So wie Sarnai und TseTseg geht es vielen Sans-Papiers momentan. Die meisten – vor allem die Frauen – arbeiten schwarz in der Kinderbetreuung, als Pflegehelferin, «Mädchen für alles» oder Putzfrau, manche Vollzeit, viele auf Stundenbasis. «Dass wir jetzt alle unsere Arbeit verlieren, hat nicht nur mit der Angst vor einer Ansteckung zu tun», erklärt Sarnai. «Viele unserer Arbeitgeberinnen sind jetzt wegen Corona viel öfter zuhause – sie brauchen uns schlicht nicht mehr.»

Gastro, Pflege, Hauswirtschaft…

Dass das nicht einfach Einzelschicksale von Sarnai, TseTseg und ihren Kolleginnen sind, zeigt ein Besuch bei der IG Sans-Papiers in St.Gallen. Laura Cutolo, Gianluca Cavelti, Matthias Rickli und Claudio Keller haben den Verein letztes Jahr zum Aufbau einer Anlauf- und Beratungsstelle gegründet, wollten den Betrieb ab Sommer 2020 so richtig aufnehmen – und wer- den seit Wochen regelrecht überrannt. «Irgendwann mussten wir ja ins kalte Wasser springen», sagt Rickli, «aber so haben wir uns den Start nicht vorgestellt.»

Das Büro an der Rosenbergstrasse – die IG teilt sich den Raum mit dem somalischen Integrationsverein – ist jeden Montag- und Freitagnachmittag geöffnet. Seit dem Lockdown beraten Rickli und die anderen bis zu zehn Leute pro Tag, vor allem aus der Gastronomie, dem Pflegebereich und der Hauswirtschaft, meist Frauen aus der Mongolei, aus China, Kasachstan, Tibet, Somalia. Die Probleme sind in den meisten Fällen dieselben: Arbeit und Geld. Die IG hilft so gut es geht, mit Nothilfe von bis zu 300 Franken und – wenn irgendwie möglich – auch mit grösseren Beträgen. Das Geld dafür kommt aus verschiedenen Spendentöpfen.

Eigentlich ist die Beratungsstelle noch im Aufbau, aber in der kommenden Zeit heisst das Motto vor allem: Troubleshooting. «Es geht um sehr viel im Moment und wir wissen nicht, wie lange die Krise noch andauert», sagt Rickli. Das heisst auch: Die IG weiss nicht, wie lange das Geld noch reicht. Sie hofft auf weitere Spenden, um auch langfristig die Kapazitäten aufrechtzuerhalten. Das ist die bittersüsse Note an dieser Geschichte: Lange hat die IG um ihre Legitimation gekämpft; Corona hat nun mehr als deutlich beweisen, dass es diese Anlauf- und Beratungsstelle braucht.

«Wir sind niemandem zur Last gefallen»

Wie froh sie um die Hilfe der IG sind, betonen auch Sarnai und TseTseng immer wieder. «Es müsste in jeder Stadt solche Hilfsangebote geben», sagen sie, «denn mit Corona werden all die Leute sichtbar, die vorher unsichtbar waren.»

Wenn sie «unsichtbar» sagen, meinen sie das nicht unbedingt negativ. Sarnai und TseTse, sind stolz daruf, dass sie bis jetzt immer selbständig für ihren Lebensunterhalt aufgekommen sind. «Wir haben gearbeitet, sind niemandem zur Last gefallen und konnten gut für uns selber sorgen», sagt Sarnai. «Die Notlage, in der wir jetzt sind, ist unverschuldet, und ich hoffe, dass ich nach dieser Krise mein Leben wieder wie gewohnt weiterleben kann – ohne fremde Hilfe.»

Die beiden betonen auch, dass sie nicht «wegen dem Reichtum» nach Europa gekommen sind, wie manche ihnen unterstellen. «Ich wollte einfach nur die Welt entdecken», sagt Sarnai. «Ich bin studierte Ingenieurin und habe früher in einem Planungsbüro gearbeitet. Eines Tages fragte ich mich: War es das jetzt? Werde ich mein Leben lang schuften, irgendwann heiraten und Kinder bekommen? Mein Fall ist das nicht. Da wusste ich, dass ich gehen muss.»

TseTseg ist es ähnlich gegangen nach ihrer Scheidung. Sie ist zweimal als Touristin nach Europa gekommen, hat sich in Italien, Frankreich, Deutschland und der Schweiz umgesehen – wo sie schliesslich geblieben ist, «vor allem wegen der Natur und den Leuten». Für immer will sie hier nicht bleiben. «Aber genau das denken die Leute», sagt sie. «Dabei will ich nur die Kultur und die Menschen kennenlernen und mein Leben leben – und irgendwann weiterziehen.»

*Namen der Redaktion bekannt

Dieser Beitrag erscheint im Juniheft von Saiten.

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