, 4. April 2020
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Vereint gegen die Not: Die Riders von Turin

Im Corona-geplagten Turin kämpfen die Velokuriere mit sozialen Protestaktionen für bessere Arbeitsbedingungen und gegen die Not der Obdachlosen. Eine Reportage von Davide Tisato.

Krankwerden für eine Pizza? Protestaktion in Turin. (Bilder: Davide Tisato)

Ein Blick in die geräumige Küche eines besetzten Hauses in Turin. Zu neunt kochen Velokuriere des Kollektivs «Deliverance Project» grosse Mengen an Pasta und Reis, während sie diskutieren, wie sie sich vor einer möglichen Ansteckung durch das Sars-Co2-Virus schützen könnten. «Statt den Bürgerlichen ihr Sushi vorbeizubringen, streiken wir heute Abend», erklärt Fabrizio (Name geändert), «und verteilen Essen an Obdachlose, die es in diesen Tagen wirklich nötig haben. Heute gibt es Pasta mit Broccoli oder Reis mit Gemüse und zum Nachtisch Fruchtsalat.»

Die italienische Regierung hat aufgrund der rasant steigenden Todesfälle den Notstand ausgerufen. Seit dem 10. März gilt eine totale Ausgangssperre. Aus dem Haus darf nur, wer Nahrungsmittel oder Medikamente einkauft, mit dem Hund spazieren geht oder eine von der Regierung als unentbehrlich eingestufte Arbeit ausübt. Eine erdrückende Stimmung hängt über der sonst lebendigen Stadt.

Mit vollgepackten Rucksäcken geht es los

Das Velokurierkollektiv hat beschlossen, in dieser Situation punktuell Protestaktionen durchzuführen. Zu ohnehin schon schlechten Arbeitsbedingungen müssen die Riders von Glovo, Deliveroo, JustEat, Uber Eats und anderen Kurierfirmen trotz strenger Ausgangsperre weiterhin arbeiten. Die Aufträge sind bedeutend weniger, die Sorge, sich oder andere mit dem Virus anzustecken, ist gross. Der Lohn fällt praktisch aus. Dennoch können sie es sich nicht leisten, komplett zu streiken. Irgendwie muss ja nächsten Monat die Wohnungsmiete bezahlt werden.

Riders galoppieren durch die leeren Strassen von Turin.

Mit vollgepackten Rucksäcken geht es los. Im Zentrum angekommen werden unter den Laubengängen hastig grosse Portionen Essen geschöpft und an Obdachlose verteilt. Einige Häuserblocks entfernt stehen zwei Riders Wache, um vor möglichen Streifenwagen zu warnen. Wer die Ausgangssperre nicht respektiert, riskiert eine Busse von mindestens 206 Euro. Die Velokurier-Rucksäcke sind eine Art Freipass, der vor Polizeikontrollen schützt, jedoch kaum beim Verteilen von selbstgekochtem Essen an Obdachlose.

«Wir wollen und können die Aufgabe institutioneller Wohltätigkeitsorganisationen nicht ersetzen», erklären die Riders. Die Solidarität und die Fähigkeit, sich autonom zu organisieren, betrachten sie aber als fundamentale Werte. Deshalb suchen sie neue Formen des Kampfes und der gegenseitigen Unterstützung. Solidarität sei ihre Waffe.

Einige Tage später wird die nächste Aktion geplant. Im Schutz ihrer autonomen Fahrradwerkstatt malen sie ein Transparent: «Wir wollen nicht wegen einer Pizza erkranken! Faires Einkommen und Sicherheit für alle Rider.» Am Abend versammeln sich alle auf der Piazza Castello, dem Hauptplatz von Turin. Hier plant das staatliche Fernsehen um 19:30 eine Direktsendung für die Regionalnachrichten.

Protestaktion während der Direktschaltung der Regionalnachrichten.

Einige Riders verhandeln mit den Journalisten und fordern, dass ihre Problematik in den Nachrichten thematisiert wird, andere bauen in der Zwischenzeit eine Art Barrikade mit ihren kubusförmigen Rucksäcken auf. Den verordneten Sicherheitsabstand einhaltend, stellen sich die Protestierenden mit dem Banner in den Blickwinkel der Kameras. Die Polizei ist aufgetaucht, die Stimmung ist angespannt. Nach hartnäckigen Gesprächen lenken die Journalisten ein und bieten den Riders während der Direktschaltung ein kurzes Interview an.

Perfides Punktesystem

Die Riders haben von den Kurierfirmen keine feste Anstellung, sondern arbeiten als selbstständig Erwerbende. Die Kurierfirmen ersparen sich so die Sozialabgaben, die vom Lohn der Rider abgezogen werden. Zur stressigen Akkordarbeit kommt noch ein perfides System der Stundeneinteilung dazu. Je mehr ein Velokurier arbeitet, desto mehr Punkte gibt es. Anhand dieser Punkte wird jeden Sonntag entschieden, wer zuerst und wer zuletzt seine Arbeitszeiten für die folgende Woche einteilen darf.

Als Folge der prekären Arbeitsverhältnisse haben sich in ganz Italien Riderkollektive gegründet, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen. Dank ihnen haben alle Velokuriere seit dem 1. Februar 2020 das Recht, von der INAIL für gesundheitsbedingte Arbeitsausfälle entschädigt zu werden.

Seit der Ausgangsperre, die am 10. März in Kraft trat, haben sich die Arbeitsbedingungen jedoch wieder verschlechtert. Die Velokurierfirmen versehen die Rider nicht mit dem nötigen Material, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Sie bekommen weder Schutzmasken noch Handschuhe oder Desinfektionsmittel. Wenn sie sich und ihre Kunden schützen wollen, müssen sie selbst dafür aufkommen. Der unvermeidliche Rückgang der Bestellungen wirkt sich deutlich auf das Tagesgehalt aus. Momentan verdienen die Velokuriere in Turin ungefähr einen Drittel ihres normalen Einkommens.

Deshalb die unmissverständliche Forderung während der Direktschaltung: «Da unsere Arbeit von der Regierung als wesentlich eingestuft wird, wollen wir, dass sie als solche anerkannt und angemessen bezahlt wird. Sonst fordern wir, dass die Regierung umgehend die Kurierdienste per Dekret einstellt und die Riders mit denselben Massnahmen unterstützt, wie andere selbständig Erwerbende.»

Die von der Regierung angeordnete Sicherheitsdistanz muss auch beim Essen verteilen eingehalten werden.

Nach der Aktion verschwinden die Velokuriere wieder in der Dunkelheit der menschenleeren Stadt. Das Aushändigen von Essen wird in den nächsten Tagen fortgesetzt werden, auch neue Aktionen und eine Solidaritätskasse auf Crowdfounding, um sich gegenseitig zu unterstützen, sind in Planung. Vor kurzem wurden die Riders von einem Arbeiterkollektiv aus dem Kulturbereich kontaktiert, um sich auszutauschen, sich gegenseitig zu unterstützen und die Kräfte zu vereinen.

Die Riders sind Sinnbild für viele von den Umständen negativ betroffene Gruppierungen. Die schon seit mehr als drei Wochen geltende Ausgangssperre akzentuiert die sozialen Unterschiede. Laut Erhebungen des ISTAT (Istituto nazionale di statistica) waren im Jahr 2018 20,3% der in Italien wohnhaften Personen armutsgefährdet, d. h. sie hatten im Jahr vor der Erhebung ein Nettoeinkommen von weniger als 842 € pro Monat. Dieser Teil der Bevölkerung leidet stark unter der aktuellen Situation. Verschärft sich die Lage weiterhin, wird die ökonomische Notlage eines grossen Bevölkerungsteils beunruhigend.

Im Moment der kollektiven Notlage verstärkt sich jedoch auch das Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühl. Angesichts der unzureichenden staatlichen Unterstützung bilden sich verschiedene Gruppen und Kollektive, die sich gegenseitig helfen und für ihre Rechte kämpfen. Vielleicht führt der Slogan «Vereint werden wir es schaffen!» zu einem längerfristigen Umdenken und einem Hinterfragen der sozialen und beruflichen Beziehungen unserer individualistischen Konsumgesellschaft.

Davide Tisato, Soziologe und Dokumentarfilmer, ist in Heiden AR aufgewachsen, lebt momentan in Marseille und befindet sich seit kurz vor der Grenzschliessung in Italien.

 

 

 

 

 

 

 

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