, 19. Oktober 2019
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Wie bleibt man als Gesundheitsdirektorin gesund, Frau Hanselmann?

Die St.Galler Spitalpolitik ist ein Dauer-Zankapfel. Mittendrin seit 2004: SP-Regierungsrätin Heidi Hanselmann. Jetzt hat sie ihren Rücktritt erklärt. Im Interview sagt sie, woran das Gesundheitssystem ihrer Ansicht nach krankt – und was sie für ihre eigene Gesundheit tut.

Heidi Hanselmann, Gesundheitsdirektorin (Bild: Urs Bucher)

Saiten: 2014, in Ihrem zweiten Präsidialjahr, haben Sie Nachtarbeiterinnen und -arbeiter besucht. Daraus entstand die Publikation «nachtein – nachtaus». Wie viele schlaflose Nächte haben Sie selber gehabt in den 16 Jahren in der Regierung?

Heidi Hanselmann: Schlaflose Nächte nicht. Aber ich arbeite viel nachts, das bringt es mit sich, wenn man eine Arbeit mit Leidenschaft und Engagement macht. Dabei stand für mich aber immer im Vordergrund: Die Arbeit soll nicht irgendwelche Papiere hervorbringen, sondern für die Menschen da sein.

Dennoch: Als Gesundheitsministerin stehen Sie stark in der Kritik. Wie hält man den Dauerstress aus? Wie bleiben Sie selber gesund?

Wenn ich Kritik nicht aushalten würde, hätte ich schon lange aufhören müssen. Ich habe gelernt, mit Druck umzugehen. Bergsteigen, Lindy Hop tanzen und Bewegung überhaupt helfen mir dabei bestens. Und dazu kommt ein sehr gutes persönliches Umfeld, das mich immer trägt und das es auch immer wieder ermöglicht, die Relationen zu sehen.

Bewegung: Ist das auch Ihr Rezept für eine gesunde St.Galler Bevölkerung?

Bewegung ist sicher das Präventionsmittel Nummer eins. Welche Art Bewegung spielt keine Rolle, ob tanzen, laufen oder fussballspielen. Ebenfalls entscheidend für ein gutes Lebensgefühl sind soziale Kontakte. Gesund zu bleiben setzt voraus, dass man herausfindet, was einem selber gut tut, und das dann auch umsetzt. Viele Menschen achten zu wenig auf sich. Auch psychische Erkrankungen nehmen zu. Deshalb haben wir in meinem aktuellen Präsidialjahr die Frage: «Wie geht’s dir?» ins Zentrum gestellt.

Die SP bedauert den Rücktritt ihrer Regierungsrätin gemäss Communiqué vom Dienstag. Und hebt die zahlreichen Leistungen Hanselmanns «für einen starken Gesundheits-Service-Public» hervor. Dazu zähle die neue Organisationsstruktur mit einer gemeinsamen statt acht unabhängig agierenden Spitalleitungen – ein «Kulturwandel», wie die SP schreibt. Und dazu zählten die insgesamt eine Milliarde schweren Spitalbau-Vorlagen, die das Volk 2014 mit überwältigendem Mehr bewilligt hat und mit denen der jahrelange «Investitionsstau» beendet werden konnte.

Ebenso hervorgehoben werden Hanselmanns Einsatz für die Prävention und Rehabilitation, die Hausarzt-Medizin, die Psychiatrie, die Alters- und Palliativmedizin oder den Medical Master.

Trotz Prävention steigen die Gesundheitskosten an, die Spitäler sind finanziell in Schieflage. Woran liegt das?

Es gibt eine Reihe von Gründen. 2012 hat der Bund ein neues Finanzierungssystem eingeführt, das den Spitälern mehr Wettbewerb verschrieben hat. Diese sollen sich seither selber finanzieren, das heisst sie müssen Gewinne erzielen. Hinzu kommt der harte Eingriff des Bundesrats 2018 in die ambulante Tarifstruktur, der zu massiven Ertragsausfällen führte. Den Kanton St.Gallen trifft das doppelt, da er den zweitniedrigsten ambulanten Tarif in der Schweiz hat. 2017 folgte die Übertragung der Spitalimmobilien vom Kanton an die Spitalverbunde. Seither müssen sie ihre Bau- und Unterhaltskosten selber tragen und das entsprechende Knowhow zur Verfügung stellen. 2019 erliess der Bundesrat zudem eine Liste für sechs Eingriffe, die nicht mehr stationär, sondern nur noch ambulant durchgeführt werden dürfen. Dies führt zwar im gesamten Gesundheitssystem zu Einsparungen, bei den Spitälern aber zu weiteren Ertragsausfällen. Insgesamt: ein gewaltiger Paradigmenwechsel in der Spitalfinanzierung.

Was sind die Folgen?

Die Spitäler sind mit massiven Ertragsausfällen konfrontiert und müssen mit nicht kostendeckenden Tarifen abrechnen. Man stelle sich einen Bäcker vor, der Brot verkauft, mit dem er nichts verdient… Profitieren können allenfalls die Privatspitäler, die sich auf rentablere Bereiche fokussieren.

Wir klagen über das teure Gesundheitssystem, erwarten aber selber die allerbeste Behandlung, wenn uns etwas fehlt. Liegt es nicht auch daran, dass die Rechnung nicht aufgeht?

Das problematische Finanzierungssystem, mit dem Spitäler in der ganzen Schweiz zu kämpfen haben, ist ein Puzzleteil. Die Anspruchshaltung der heutigen Gesellschaft ist ein weiteres. Die Rechnung ist eigentlich einfach: Weniger Behandlungen hiesse wirksam Kosten sparen. Deshalb ist, noch einmal, Prävention so wichtig. Auf diesem Gebiet haben wir denn auch grosse Fortschritte gemacht. Nur ein Beispiel: In den letzten zehn Jahren, das zeigt die Studie «Kind im Gleichgewicht», ist die Zahl übergewichtiger Kinder zurückgegangen.

Weniger Behandlungen, weniger Kosten: Wie schafft man das?

Indem man Prävention lebt und Fehlanreize beseitigt. Das heutige System bevorteilt gewisse Behandlungen, wenn man sie stationär statt ambulant durchführt. Nur ein Beispiel: Eine Krampfadernoperation kostet ambulant rund 2500 Franken, stationär über 6000 und bei privatversicherten Patienten über 10’000 Franken. Ich setze mich auf kantonaler und nationaler Ebene deshalb für die koordinierte Versorgung ein; sie hilft, Fehlanreize zu beseitigen, unnötige Behandlungen zu vermeiden, Qualität und Patientensicherheit zu verbessern. Dieses Modell kann sich aber nur durchsetzen, wenn die Finanzierungs- und Vergütungsstrukturen angepasst werden. Ziel ist es, die je beste Behandlungslösung zu finden. Der Mensch muss im Zentrum stehen und nicht Renditen für Spitäler oder Kassen.

Flawil: Für Private rentabel?

Das Spital Flawil, einer der Kandidaten für eine Spitalschliessung, ist von Privaten umworben, u.a. von der Waadtländer Privatklinikgruppe Swiss Medical Network. SP-Co-Fraktionschefin Laura Bucher hat dazu eine Einfache Anfrage an die Regierung gerichtet. Sie zitiert Äusserungen des CEO von Swiss Medical Network, wonach am Standort Flawil ein Angebot mit Notfall, einem breiten ambulanten und einem stationären Angebot ohne hohe Spezialisierung angedacht sei. Man sei überzeugt, dass alle Regionalspitäler eine Zukunft hätten, wenn sie gut gelegen seien. Auf Flawil treffe das zu, zudem sei das Spital in der Region stark verankert.

Für Bucher stellt sich die Frage, «weshalb sich ein privater Anbieter in der Lage sieht, die stationäre Grundversorgung in den Regionalspitälern zu erhalten, während der Verwaltungsrat der St.Galler Spitalverbunde bei jeder Gelegenheit behauptet, kleinere Regionalspitäler könnten nicht kostendeckend geführt werden».

Sie will daher unter anderem wissen, wie sich die Regierung diese gegenteilige Einschätzung erklärt und was ein Verkauf oder eine Vermietung für Auswirkungen auf die Spitallandschaft hätte.

Das wäre also die Lösung: Die falschen Anreize zu beseitigen?

Es wäre ein wichtiges Puzzleteil. Denn diese Fehlanreize machen bis zu 30 Prozent der Gesundheitskosten aus, wie verschiedene Studein zeigen. Das muss man sich einmal vorstellen. Spitalschliessungen lösen diese Systemfehler nicht, und sie haben auch kaum Auswirkungen auf die Krankenkassenprämien. Es geht darum, Kosten zu vermeiden und nicht nur zu verschieben. Scheinlösungen bringen uns nicht weiter.

Spitalschliessungen sind eine Scheinlösung?

In Bezug auf die Krankenkassenprämien ja – in unserem Kanton liegen sie klar unter dem Schweizer Durchschnitt –, aus rein unternehmerischer Sicht nein. Und aus kantonaler Sicht kommt es auf die Gewichtung an. Die Kantone agieren unterschiedlich. Wenn man mir in den Mund legt, ich sperre mich gegen alle Veränderungen, so stimmt das nicht. Ich habe stets darauf hingewiesen, dass eine Strategie nie statisch sein kann. Sie muss den Veränderungen gerecht werden. Die Anzahl Spitäler ist jedoch nicht alleiniger Gradmesser, sondern vielmehr sind es die Leistungen, die dort angeboten werden. Wenn man über Standorte diskutiert, muss man sich im Klaren sein, dass damit auch einfach Kosten verschoben werden. Das haben Erfahrungen in den Kantonen Bern oder Zürich gezeigt, wo kleine Spitäler geschlossen wurden. Der Kostenanstieg ging weiter, private Anbieter sind in die Bresche gesprungen.

In Kommentaren zu Ihrem Rücktritt wird Ihnen vorgeworfen, sie gingen damit den Problemen aus dem Weg.

Das finde ich einigermassen keck. Nach 16 Jahren in dieser intensiven, herausfordernden Tätigkeit und mit 58 Jahren muss es erlaubt sein, sich zu fragen, was noch kommt. Ich habe eine umfassende Auslegeordnung gemacht und mich entschieden, nicht mehr für eine fünfte Amtszeit zu kandidieren. Wäre ich geblieben, hätte es wohl geheissen: 20 Jahre, das ist zuviel…

Schmerzhaft?

Ich habe gelernt, mit Widerständen umzugehen. Auf der Politbühne ist es sicher härter geworden, aber ich bin noch nie mit Samthandschuhen angefasst worden. Was mich mehr stört, ist, wenn ein Thema nur eindimensional wahrgenommen wird. Die heutige Spitalfinanzierungs-Problematik ist kein st.gallisches Problem, sondern ein nationales.

Kommenden Mittwoch stellt die St.Galler Regierung die veränderte Spitalstrategie, um die seit Monaten gerungen wird, der Öffentlichkeit vor. Kontrovers sind insbesondere die Frage von Spitalschliessungen und die Notfall-Versorgung in den Regionen. Als gefährdet gelten die fünf Spitalstandorte Altstätten, Rorschach, Flawil, Wattwil und Walenstadt.

Was war der Erfolg, der Sie am meisten freut nach 16 Jahren?

Was mich freut und bestätigt, sind die Menschen, die mich auf der Strasse ansprechen und sich bedanken für meine Arbeit. Und konkret sind es die Projekte, die ich mit meinem Team realisieren konnte: das Mammographie-Screening, das wir als erster Deutschschweizer Kanton eingeführt haben, Massnahmen zur Prävention, die Förderung der Hausarztmedizin, die Positionierung der Kliniken Valens als erste Adresse für die Rehabilitation, der Medical Master oder das Schliessen von Angebotslücken in der Psychiatrie, die heute ausgezeichnet aufgestellt ist. Das Geriatriekonzept und die Verankerung von Palliative Care im Gesetz wären zu nennen und die Förderung der Lebensqualität im Alter. Da denke ich an die Sturzprävention: Jeder Sturz, den man vermeidet, bringt Lebensqualität und spart namhafte Kosten.

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